Umbruch auf Château Rieussec

Süß, alkoholreich, voluminös: Eigenschaften, die nicht gerade im Trend liegen. Dazu sind die Weine konservativ im Auftritt, kapriziös in der Erzeugung und unter starkem Druck durch die Erderwärmung. Beim Sauternes von Krise zu sprechen, ist beinahe schon eine Untertreibung. Auf Château Rieussec bläst man dagegen keine Trübsal, sondern geht in die Offensive.

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Manche Revolutionen ereignen sich im Hinterzimmer. Auf Château Rieussec findet sie in einem Nebenraum statt. Auf dem Programm steht der zweite Teil der Flaschenabfüllung des 2019er-Jahrgangs, konkret: Etikettierung, Verkapselung und die Verpackung in Kartons. Dabei stellt eine Mitarbeiterin die frisch abgefüllten und verkorkten Flaschen aus großen Metallboxen auf ein Förderband. Das bringt sie zu einer automatischen Kombi-Anlage aus Laser-Kodierer, Kapselaufsetzer und Etikettierer. Am Ende der Strecke nimmt eine zweite Mitarbeiterin die Flaschen in Empfang und packt sie schließlich in handliche Kartons.

So weit, so normal. Doch die Flaschen sind nicht transparent, sondern dunkelgrün und bauchig. Die Etiketten nicht vornehm in Weiß und Gold, sondern in Gelb gehalten, und aus Sechser-Holzkisten wurden Vierer-Kartonschachteln. Unwillkürlich fragt man sich: Und was ist mit dem Wein? Rieussec ist immerhin seit 1855 ein Premier Grand Cru Classé. Nachbar des legendären Château d’Yquem, und selbst einer der großen Süßweine dieser Welt. Schmeckt Rieussec noch nach Rieussec?

Ein neu definierter Auftritt

Tatsächlich war die Verblüffung groß, als Saskia de Rothschild im Oktober 2021 die neue Verpackung für den jüngsten Jahrgang von Château Rieussec präsentierte. „Wir mussten mit den Codes von Sauternes brechen“, diktierte die junge Präsidentin der Domaines Barons de Rothschild (Lafite), zu der Rieussec gehört, in die Mikrofone der Journalisten. „Weil seine Aura verblasst und sein Konsum selten geworden ist und sich auf die Feierlichkeiten zum Jahresende beschränkt.“ Der Wein habe es sich, so de Rothschild weiter, „in der Tradition, der Folklore und der Konvention bequem gemacht, ohne sich um die übrige Welt zu kümmern.“ Ein Wein für einen „Klassizismus“ von gestern, der weder in der Lebensart noch in der Gastronomie von heute angekommen sei.

„Wir mussten mit den Codes von Sauternes brechen.“

Saskia de Rothschild

Also hat ihr Team den Auftritt von Rieussec neu definiert, indem sie ihn zum einen verjüngt und zum anderen konsequent in Richtung Nachhaltigkeit ausgerichtet hat. Wie auf diesem Level üblich, gab man sich nicht mit halben Sachen zufrieden. Weil man transparentes Glas nicht aus recyceltem herstellen kann, fiel die Auswahl auf dunkelgrüne, zu 96 Prozent aus PCR-, also Post-Consuming-Recycled-Glas bestehende Flaschen der Serie Bold vom spanischen Spezialisten Estel. Das Studio Laure Flammarion reduzierte das traditionelle Etikett mit der emblematischen Krone des Sauternais bis zur Abstraktion. Und es regt durch das abziehbare Rückenetikett mit den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestinformationen dazu an, die Flasche nach dem Weingenuss als Vase weiter zu verwenden.

Ein zwiespältiges Echo

Von der Schweizer Agentur Big Game, die auch schon für Alessi und Ikea gearbeitet hat, kam die Idee für einen zweiten, an einer gelben Kordel von Corderie Palus befestigten Korken. Den solle man nach Anbruch des Flasche verwenden, um immer wieder einmal ein Glas zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten zu entnehmen. Schließlich halte sich eine geöffnete Flasche Sauternes im Kühlschrank gut einen Monat. Und vom britischen Verpackungsspezialisten DS Smith stammt schließlich die Pappkiste für vier Flaschen. Was zum einen ressourcenschonender sei und zum anderen den modernen Einkaufsgewohnheiten (und wie man hinzufügen muss, auch dem deutlich erhöhten Verkaufspreis) eher entspräche.

Das Echo jedenfalls war groß. „Saskia de Rothschild rüttelt den Sauternes durch“ schrieb die französische Tageszeitung „Le Monde“. Auch in „Le Figaro“ („Desakralisierung“) und der „Financial Times“ gab es Kommentare. Anders als bei Chateau Lafaurie-Peyraguey, deren Flaschen kürzlich durch die Zugehörigkeit zur Lalique-Gruppe von Silvio Denz ein sehr edles, mit der Tradition verbundenes Neudesign erfahren hatten, wollte Saskia de Rothschild im Fall von Château Rieussec mit dem Überkommenen, den „Codes von Sauternes“ völlig brechen.

Die Reaktion fiel zunächst zwiespältig aus. So kann man sich fragen − da der Korken offensichtlich vom Kinderspiel Bilboquet inspiriert ist und Weintrinker mit Töchtern bei der stilisierten Krone unwillkürlich an „Little Princess“ von Tony Ross denken müssen − ob grafische Vereinfachung zwangsläufig zu Infantilisierung führen muss. Andere erinnert die Flasche eher an Olivenöl als an Sauternes. Ihr Vater Eric jedenfalls, gestand Saskia de Rothschild, würde die Flasche hassen, und er habe sie gebeten, ein paar Kisten im alten Look zu produzieren. Ihre Antwort aber war sehr deutlich: „Es ist eine endgültige Änderung, keine limitierte Serie, wir können kein doppeltes Spiel spielen.“

Ein Stil, der sich ändert, eine DNA, die bleibt

Ende November 2021, kurz nach der Weinernte, herrscht auf Château Rieussec eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Am Morgen hat sich Edouard Massie (Foto unten rechts) angekündigt, ein Berater von Oenoconseil, das im nahen Preignac ein Büro unterhält. Ein fünfköpfiges Team von Château Rieussec, zu dem neben dem Technischen Direktor Olivier Trégoat auch Betriebsleiter Jean de Roquefeuil (Foto unten links) und Kellermeister Bertrand Roux gehören, wird mit ihm eine ganze Reihe Jungweinproben diskutieren: hefetrübe Chargen von 2021 ebenso wie Fassproben des Vorgängerjahrgangs. Die Fragestellungen sind vielfältig: Welche Parzellen sind viel versprechend, welche Fässer eignen sich am besten?

Tatsächlich ändert sich seit den letzten Jahrgängen auch der Wein von Rieussec, nicht nur die Flasche. „Wir wollen weniger Restsüße und weniger spürbaren Holzeinfluss im Wein“, sagt Olivier Trégoat. Das sei einfach die Forderung des Marktes. Dadurch würde Château Rieussec, von dem durchschnittlich 72.000 Flaschen produziert werden, für die junge Generation leichter konsumierbar und in der Gastronomie vielfältiger einsetzbar zu sein. „Aber wir wollen“, fügt Trégoat hinzu, „die Länge und Intensität möglichst noch steigern. Der Rieussec soll seine DNA bewahren.“

Eine lange Vorgeschichte

Dies ist nicht der erste Stilwechsel auf Château Rieussec. Und weil das Weingut durch seine Lage und seine Klassifikation zu den Spitzenweinen des Bordelais zählt, wird dieser von Süßwein-Sammlern in aller Welt aufmerksam verfolgt. Rieussec, dessen Name vermutlich von einem kleinen, oft ausgetrockneten Bach (Französisch „ruisseau“ und „sec“) stammt, der zwischen Château d‘Yquem und Château Rieussec verläuft und der zugleich die Gemeindegrenze zwischen Sauternes und Fargues bildet, war vor der Französischen Revolution in Kirchenbesitz gewesen. Ein Anwesen des Karmeliterordens aus Langon, zu dem auch Château Les Carmes Haut-Brion bei Bordeaux gehörte und der noch heute namensgebend für den Zweitwein Carmes de Rieussec ist. Dass auch unter den häufig wechselnden Besitzern im Jahrhundert darauf kein Eigentümer von Adel war, war wohl der Grund, warum Rieussec nie ein Schloss erhalten hat wie die meisten seiner Nachbarn.

Dennoch wurde es 1855 in der Liste der „Vins blancs classés de la Gironde“ von 1855 direkt hinter dem „1er Cru Supérieur“ Château d’Yquem in einer Gruppe von neun weiteren Weingütern als „Premier Cru“ eingestuft. Dafür sprach nicht zuletzt seine Lage. Denn es liegt auf einer 76 Meter hohen Kuppe, nur zwei Meter unterhalb seines Nachbarn Yquem. und wie dieser auf der zentralen Terrasse über den Flüssen Ciron und Gironde, die mit ihrem tonig-sandigen Kiesboden auf einem Kalksteinsockel die besten Bedingungen für den Weinbau in der Region bietet.

Das Erwachen aus dem Dornröschenschlaf

Dennoch dauert es bis 1971, bis das Weingut aus seinem Dornröschenschlaf geweckt wurde. In diesem Jahr wurde es von Albert Vuillier erworben, dessen Familie aus den französischen Pyrenäen stammte und mit einer Lebensmittelkette viel Geld verdient hatte. Vuillier war selber ein großer Süßwein-Liebhaber und seit langer Zeit der der erste Besitzer, der wieder selbst in Rieussec wohnte. Weil es ihm ein persönliches Anliegen war, den Wein zu einem der besten der Appellation zu machen, investierte er eine Menge Geld in neue Fässer und trieb mit bis zu acht Lesedurchgänge immensen Aufwand bei der Ernte – was die Stilistik von Rieussec veränderte.

Der früher stets elegante, beinahe Barsac-artige Wein wurde dunkler, schwerer und direkter, die Aromen, die zuvor an Limonenkuchen erinnert hatten, dominierten nun Rosinen und Röstnoten. In den Jahren 1975 und insbesondere 1976 entstenden bei minimalen Erträgen – drei Rebstöcke produzierten gerade einmal ein Glas Sauternes – Weine, die etwa in der britischen Presse als unbalanciert und „overblown“ in die Kritik gerieten und hinter deren Alterungspotenzial Fragezeichen standen. Wirtschaftlich schwere Zeiten und klimatisch schlechte Jahrgänge sorgten bald dafür, dass Vuillier das Geld ausging. Ende des Jahrzehnts begann er nach einem Investor zu suchen. Doch erst nachdem er mit dem 1983er-Jahrgang seinen wohl besten Rieussec produziert hatte, griff die Familie Rothschild zu und erwarb im Jahr darauf zunächst die Mehrheitsbeteiligung von Château Rieussec und wurde bald darauf Alleineigentümer.

Unter dem Dach der Rothschild-Gruppe

An der Stilistik änderte sich zunächst nicht viel. Mit Charles Chevallier kam 1985 zwar ein neuer Gutsleiter (er sollte 1994 Direktor von Château Lafite werden), aber Vuillier beriet das Gut noch einige Jahre weiter. Tatsächlich ermöglichte der neue Besitzer, auf Rieussec noch präziser zu arbeiten, etwa durch Kauf pneumatischer Pressen und die Fermentation im Holzfass. Der Sauvignon-Anteil ging in manchen Jahren gegen null, der Anteil an neuem Holz stieg noch weiter an. Zudem wurde schärfer zwischen Grand Vin und Zweitwein selektiert (wobei Rieussec neben dem eigentlichen Zweitwein − heute Carmes de Rieussec“− auch Weine abgefüllt hat, die Namen von Parzellen abseits des eigentlichen Lieu-dits „Rieussec“ tragen wie den Clos Labère, ein Lieu-dit dieses Namens südlich von Rieussec, oder den Château Cosse, nach einem Lieu-dit um ein Gehöft östlich von Rieussec). Jahrgänge wie 1993 und 2012 wurden sogar ganz ausgelassen.

1989 wurde ein Barriquekeller gebaut, 2000 neue Räume für die Fermentation eingeweiht und Teile des Anwesens renoviert, dazu die Weinbergfläche von 40 auf gut 85 Hektar erweitert. Der Beifall kam rasch. Der britische Kritiker Clive Coates erklärte Rieussec zu „Sauternes ‚super-second‘“ und befand, dass dessen Weine dem Charakter von Yquem am nächsten kämen und unter den übrigen Premier Crus die „vollsten, köstlichsten und reichsten“ seien. Der „Wine Spectator“ ernannte Rieussec 2001 mit vollen 100 Punkten zum Wein des Jahres 2004 – was kein Sauternes zuvor geschafft hatte oder wiederholen sollte.

Tempi Passati. Schon kurz darauf begann das Goldgelb des Sauternes matter zu schimmern. Auch wenn Exporte nach Asien etwas Anlass zur Hoffnung gaben, ging der klassische Weinkonsument zum französischen Süßwein zunehmend auf Distanz. Seit 2000, so berichtete „Le Figaro“, hat die kleine Appellation, die nur 2 bis 3 Prozent von der Größe des Bordelais ausmacht, die Hälfte ihrer Produzenten und ihres Umsatzes, ein Viertel ihrer Produktion und 15 Prozent ihrer Weinbergsfläche verloren. Einige Winzer warben für „Sauternes on the Rocks“ oder kreierten eigene Cocktails. Für andere war der Moment gekommen, den Anbau trockener Weißweine zu forcieren.

Neue Regeln für den trockenen R

Auf Rieussec wurde schon seit 1979 ein R dry von Château Rieussec produziert – was Gutsdirektor Olivier Trégoat im Rückblick nicht unkritisch sieht. „Wir haben die trockenen Weine einfach mit einer ähnlichen Einstellung und der Ausrüstung für die Süßweine gemacht, das war ein Missverständnis.“ Dieses begann schon im Weinberg. Denn in Sauternes ist der Sémillon König, weil seine dünnen Beerenhäute ein idealer Ausgangspunkt für den Schimmelpilz Botrytis cinerea ist, um die begehrte Edelfäule hervorzurufen. Er verursacht die geschmackliche Metamorphose, üppige Textur und enorme Konzentration der Süßweine von der Gironde. Entsprechend ist im Sauternais alles auf sie abgestellt.

Bei Rieussec, wo der Rebspiegel aus 83 Prozent Sémillon, 15 Prozent Sauvignon und 2 Prozent Muscadelle besteht, arbeiten etwa mehrere hauptberufliche Mitarbeiter für den passenden Rebschnitt. Zudem wird die wenig sauerstoffempfindliche Traubensorte im Holz fermentiert und in reichlich Neuholz ausgebaut. Mittlerweile gibt es für die Sauvignon-Traube, die im Blend des R etwa die Hälfte ausmacht, eigene Schulungen für den Rebschnitt in Sancerre,. Es wird genauer auf den Lesetermin beim Sauvignon (vor der Boytritisbildung) geachtet und eigene und besser gegen Oxidation abgekapselte Traubenpressen verwendet. Nur noch gut 20 Prozent der Weine für den R fermentieren im Holz, um die Traubenfrucht und Frische zu konservieren.

Doch nach wie vor gilt auf Rieussec das Hauptaugenmerk dem Grand Vin. Mit der Stabübergabe von Eric de Rothschild an seine Tochter Saskia und die Ablösung von Charles Chevallier als Technischem Direktor 2017 und die Ersetzung durch Eric Kohler (ab 2020 durch Olivier Trégoat) und parallel von Betriebsleiter Frédéric Magniez durch den langjährigen Chef de Culture, Jean de Roquefeuil, war der Moment gekommen, um auch den stilistischen Wechsel beim Süßwein anzugehen. Die Aufgabenstellung für das neue Team war jedenfalls ambitioniert. Nicht nur sollte Nachhaltigkeit (wie in allen Domänen und Châteaux der Rotschild-Gruppe) zu einem integralen Prinzip der Produktion werden. Darüber hinaus sollten die Folgen der Klimakrise gemeistert und der Wein an ein neues Publikum und dessen Konsumverhalten angepasst werden.

Adaption an den Klimawandel

Heute wird Château Rieussec seit drei Jahren biologisch bewirtschaftet und ist 2021 die offizielle Zertifizierung beantragt worden. Wie auf den übrigen Rothschild-Gütern arbeitet das Team eng mit der Forschungs- und Entwicklungsabteilung unter Manuela Brando zusammen. Zentrales Thema auf Rieussec sind Versuche zur sogenannten Dosismodulation von Pflanzenschutzmitteln, bei der die jeweilige Menge genau der Vitalität der Reben entsprechen soll, um die Gesamtdosis so minimal wie möglich zu halten. Zu diesem Zweck wird seit einiger Zeit die Vitalität der gesamten Rebfläche anhand von GreenSeeker-Näherungssensoren kartiert und mit den Daten von Flugzeugen und Drohnen abgeglichen.

Ganz konkret ist der Einfluss der Klimakrise. Für Olivier Trégoat sorgt sie für eine immer geringere natürliche Balance. „Die heißen Sommer der letzten Jahre“, erklärt er, „bedrohen zudem die Entstehung unserer einzigartigen Edelfäule“. So sorgen die höheren Temperaturen für dickere Beerenhäute und höhere Phenolwerte – was die Beeren widerstandsfähiger gegen den Boytritis-Pilz werden lässt. Der zeitliche Abstand zwischen erster Traubenreife und Edelfäule wird dadurch immer größer. Gelegentlich zieht sich die Ernte nun über acht Wochen bis in den November hin.

„Für keinen anderen Wein ist die Bedeutung des Jahrgangs so groß wie für Sauternes“, stellt Trégoat fest. Mal betrifft die „Pourriture noble“ gut 60 Prozent der Ente, dann wieder nur 10 Prozent und manchmal fällt sie ganz aus. Gut 100 Erntehelfer sind jedes Jahr im Einsatz, um in zahlreichen Durchgängen in jeder Parzelle die Beeren zum perfekten Reifezeitpunkt einzusammeln (was zugleich Sortiertische im Keller überflüssig macht). Das in den Neunzigerjahren mit großen Hoffnungen eingeführte Verfahren der Kryoextraktion, also das Pressen von gefrorenen Trauben, wodurch das Wasser als Eiskristalle im Trester verbleibt, wurde jedenfalls schnell wieder eingemottet.

Die Rolle der Geologie

Weil Forschungen erwiesen haben, dass die Entstehung von Edelfäule auch vom Boden abhängt, wird nun auch der Geologie vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Olivier Trégoat jedenfalls ist einer der profiliertesten Bodenkundler der Region und hat unter anderem eine pedologische Karte von Château d’Yquem verfasst, bevor er zur Rotschild-Gruppe wechselte. Dass er Eric Kohler nach nur drei Jahren als Technischen Direktor von Rieussec (und L’Évangile) abgelöst hat, zeigt, welche Bedeutung die Geologie im Hause Rothschild mittlerweile besitzt. Exakte Kartierungen des Terroirs von Rieussec sollen jedenfalls in Zukunft zu passenderen Sortenpflanzungen (und Unterlagsreben) führen, um optimale Bedingungen für das Auftreten von Boytritis zu ermöglichen.

Schon jetzt ist der durchschnittliche Sauvignon-Anteil auch im Grand Vin gestiegen. Gegenüber der eher neutralen, aber sehr cremige Weine hervorbringenden Sémillon-Traube (deren sehr hoher Anteil im Blend immer zum Charakter von Rieussec gehörte) steht sie für lebendige Säure und Frucht. Das kann zum einen den Wein in Hitzejahren wie 2018 (wo es ungewöhnliche 25 Prozent Sauvignon im Blend gab) ins Gleichgewicht bringen, wird  aber eben auch grundsätzlich von Weintrinkern der jungen Generation besonders geschätzt. Dazu wurde seit 2017 der Restzuckergehalt von 140 (teilweise 160) auf etwa 120 Gramm pro Liter gesenkt und sowie der Holzeinfluss der (zumeist von der familieneigenen Tonnellerie in Pauillac stammenden) Fässer reduziert, weniger durch das Verhältnis von neuen und einjährigen Barriques von etwa 1: 1 als durch eine kürzere Verweildauer von teilweise nur noch 18 Monaten und ein leichteres Toasting.

Die Verkostung

Umso faszinierender dann die Präsentation gleich dreier Generationen von Rieussec durch den Betriebsleiter Jean de Roquefeuil. Nach einem Auftakt mit dem trockenen R von 2019, dessen Stachelbeer-Nase den Sauvignon und die viskose Textur den Sémillon verraten, dessen Komplexität aber ein wenig unter der kurzen Vegetationsphase des Jahrgangs litt, markierte der gerade gefüllte Grand Vin aus dem gleichen Jahrgang den ersten Akt. Tatsächlich fällt gleich zu Beginn das Rieussec-untypische blasse Goldgelb ins Auge. Zu Anklängen an Datteln gesellen sich Noten von Limonenzesten – oder „Zitronen-Baiser-Torte“, wie Jean de Roquefeuil es ausdrückt. Ihm ist zuzustimmen, dass die 119 Gramm Restzucker durch die Säure sehr gut ausbalanciert werden. 2010 (aus der halben Flasche) beeindruckt dann durch seine Honig-Aprikosen-Aromatik und ist bei viel Wucht und merklicher Restsüße immer noch stark von der Primärfrucht geprägt.

Der letzte Akt gehört dem 1976er-Jahrgang. Kontrovers, weil dem angeblich überextrahierten Wein keine lange Zukunft vorausgesagt wurde, und aus einer schon eine Weile geöffneten Flasche – aber mit einem Mal war sie da, die Magie des Sauternes: im Glas das dunkle Kupfer eines klassischen Rieussec, dabei Noten von Leder und Edelholz, nach weiterer Belüftung auch etwas Orangenmarmelade. Am Gaumen mit spürbarer Säure, gutem Mundgefühl und sehr langem, leicht bitteren Abgang. Beim Blick auf die kellerfleckige Flasche, bei dem das Gold auf dem Etikett so nachgedunkelt ist wie der Wein, stellt sich Wehmut ein. Die Skepsis aber, die beim ersten Blick auf die neue Flaschenform geherrscht hatte, ist nach dem Besuch auf Château Rieussec verflogen. Die Revolutionen von heute waren schließlich noch immer die Traditionen von morgen.

Der Artikel ist ein Wiederabdruck eines Artikel aus  FINE – Das Weinmagazin 2/2022.

Bildrechte

Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images

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