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Tokajer hat eine ruhmreiche Geschichte, die freilich beinahe buchstäblich im Sande verlaufen wäre. Die Weinregion war vermutlich die erste in der Welt, die die Ernte systematisch in den Spätherbst ausgedehnt hat. Und sie war in den 1720/30er-Jahren die erste, die eine Lagenklassifikation (nach erster, zweiter und dritter Klasse) erstellt hat. Nach der sowjetischen Besetzung Ungarns überlebte Tokajer gerade so. Aber das Wissen um die Qualität der Hanglagen ging weitgehend verloren. Die Winzer wurden enteignet, bis schließlich alle Kellereien 1974 im Staatlichen Weinkombinat von Tokaj-Hegyalja aufgingen. Unsinnige Produktionsziele sollten nicht zuletzt durch die Bepflanzung des Flachlands und überhöhte Erntemengen erreicht werden. Im Keller wurden Methoden wie Pasteurisierung und die Zugabe von neutralem Alkohol zur Stabilisierung eingeführt. Nach der Wende und anschließender Privatisierung, darunter teilweise auch an ausländische Investoren, wusste niemand mehr so richtig, wie eigentlich der große Tokajer vor dem Weltkrieg produziert worden war.
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Anfang der Neunzigerjahre wurde die Diskussion zwischen den Vertretern einer vermeintlichen „Tradition“ und der „Moderne“ geführt. Dazu gehörte die Frage nach der Vergärung im Edelstahl. Oder dem Zeitpunkt der Zugabe der Aszú-Beeren zur Mazeration – in Most, fermentierenden oder fertigen Wein. Und schließlich Gebrauch und Herkunft der Holzfässer. Als David Schildknecht 1999 die Region bereiste, kam es ihm vor, als würde jeder Winzer die Tradition nach eigenem Gusto interpretieren. Mit jedem Wechsel eines Winzers glaubte er, auch das Weinbaugebiet zu verlassen. Alle meinten, Teil eines historischen „Revivals“ zu sein, ohne zu wissen, was diese Tradition eigentlich bedeutet. Mit dem Beitritt zur EU 2002 erhielt die Weinregion Tokaj dann eine geschützte Ursprungsbezeichnung, analog einer AOC. Eine bestimmte Stilistik wurde den Winzern dabei nicht vorgeschrieben. Als Tim Atkin im gleichen Jahr seine Master-of-Wine-Dissertation über Tokaj schrieb, nennt er die trockenen Weine gerade einmal „akzeptabel“. Von Sekt war gar nicht die Rede.
Der Aufbruch seit den 2010er-Jahren
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In den 2000er-Jahren diversifizierte sich die Weinproduktion aus Tokaj. Trockene Weißweine, insbesondere aus Furmint, verzeichneten ebenso große Zuwachsraten wie Schaumweine. Zugleich war das Bedürfnis offensichtlich, das Tokajer-Pflichtenheft insgesamt zu verschärfen. Das führte zwischen 2013 und 2024 zu verschiedenen Änderungen der Tokajer Produktspezifikation (TPS). Etwa die Klärung der Aszú-Voraussetzungen, sodass es heute nur noch 5- oder 6-büttige („Puttonyos“) Aszú-Weine gibt. Aber auch zur Verschärfung der Vorschriften für Tokajer-Schaumweine. So darf nicht mechanisch geerntet werden und muss ausschließlich das „traditionelle Verfahren“ bei der Produktion zum Einsatz kommen. Vor dem konsequenten nächsten Schritt zögert die Region: die Wiedereinführung der Lagenklassifikation. Nur eine der acht sich selbst verwaltenden Weinbaugemeinschaften (in die die Appellation mit ihren 27 Dörfern und Gemeinden aufgeteilt ist), wollte diesen Schritt gehen. Die bereits vor Jahrhunderten als ein Zentrum der Region geltende Gemeinde Mád. Sie hatte bereits zu Beginn der 2000er-Jahre mit trockenen Lagen- und Ortsweinen auf sich aufmerksam gemacht.
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Mád ist nicht zufällig der Vorreiter der Region. Nicht nur gehören einige seiner Lagen traditionell zu den besten von Tokaj. Es beheimatet auch einige der prominentesten Winzer des Landes. Hier hat die Universität Debrecen mit der Weinakademie Mád eine Außenstelle, die sich wissenschaftlich dem Tokjaer Wein im Allgemeinen und seiner Verbindung zum Terroir im Besonderen widmet. Ihr Träger ist neben der Universität sowie der Gemeinde Mád auch Mád Kör, ein Verein zum Schutz der Herkunftsbezeichnung Mád, dem vor allem Winzer mit Lagen(„Dülöi“)besitz in Mád angehören. Diese haben die besten Höhenlagen der Gemeinde identifiziert und Produktionsvorschriften für Orts- und Lagenweine aus Mád entwickelt: MOC (Mád Origin Control) sowie MDOC (Mád Dülö Origin Control). Weil die anderen Weinbaugemeinschaften von Tokaj sie nicht in das Pflichtenheft der Appellation integrieren möchten, nennt sie der Schutzverein aus Mád „Handelszertifizierungen“. Im November 2020 offiziell registriert, sind erste 2021er mit dem neuen Logo bereits auf dem Markt.
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Holdvölgy: Unterschiedenes ist gut
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Das noch junge Weingut Holdvölgy steht exemplarisch für die qualitätsorientierte Aufbruchsstimmung in Mád. 1998 schenkte die französische Mutter der heutigen Besitzer ihrem ungarischen Ehemann einen Weinberg in Mád, wo dieser einst aufgewachsen war. In den nächsten Jahren kaufte deren Sohn Peter Démko – der im Übrigen als Wirtschaftsjurist arbeitet – weitere hinzu. Fünf Hektar in der Lage Holdvölgy, im „Tal des Mondes“, wie das Wort auf Deutsch heißt, sollten dann den Namen für das Weingut geben. Das produzierte erste eigene Weine seit 2006, die dann 2008 auf den Markt kamen. Zwischen 2011 und 2013 wurde dann auf drei Ebenen ein eindrucksvoller Weinkeller gebaut und mit einem renovierten, 500-jährigen Kellersystem von 1,8 Kilometer Länge verbunden. Heute besitzt das Weingut 28 Hektar Weinberge. Peters Schwester und Mitgründerin von Holdvölgy, Natália Démko, ist die Export-Managerin des Gutes. Das Portfolio umfasst – oberhalb einer poppig gestalteten Einstiegslinie und dem trockenen Tokaj-Einstiegsblend Vision – ausschließlich hoch individuelle Abfüllungen.
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Die Betriebsphilosophie wird schon in den winzigen Stahltanks zur mikro-parzellären Fermentation sichtbar. Zur Vergärung werden verschiedene Hefen eingesetzt. Doch nicht nur im Keller, auch im Weinberg, setzt das Weingut auf Präzision. Meditation ist ein reinsortiger trockener Furmint aus der Máder Spitzenlage Király, Expression ein Hárselvelü aus Becsek. Selbst der Muscat wird lagenrein ausgebaut (Intuition No.2 sowie Exaltation), ebenso wie die seltene Rebsorte Zéta, von der es einen Szamorodni aus dem Holdvölgy gibt (Intuition No.1“. Vom Furmint stehen vier verschiedene Klone in den Weinbergen, der Intuition No.3 ist eine mono-klonale Abfüllung (T8/7575) aus der Lage Holdvölgy. Es sind sämtlich charakterstarke, fast intellektuelle Weine, denen man sich lange widmen möchte. Dennoch werden sie überstrahlt von den großen Süßweinen, insbesondere dem Tokaji Aszú 6 Pottonyos („Culture“). Der wird seit 2014 en-Primeur angeboten – frühestens acht Jahre nach der Ernte. Der 2016er vereint Klarheit und Tiefe, ein großartiger Botschafter für die neuen Spitzen-Tokajer aus Mád.
Sauska: Der 360-Grad-Ansatz
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Sauska ist ein Phänomen: ein Weingut in zwei Regionen und drei Standorten. Gegründet hat es der aus Ungarn in die USA geflüchtete Krisztián Sauska. Der hatte in seiner neuen Heimat mit Leuchtstoff-Lampen viel Geld verdient und gemeinsam mit seiner Frau Andrea zunächst 2003 in Tokaj und schließlich 2006 in Villány (für Rotweine, insbesondere Cabernet Franc) unter ihrem Namen zwei Weingüter gegründet, die 2016 um einen Keller in Budafok erweitert wurden, dem historischen Schaumweinzentrum Ungarns. Zunächst im alten Casino in Tokaj ansässig, zog das Tokajer Weingut zwei Jahrzehnte später in eine neue futuristische Kellerei nahe Mád um. Hier wird nach Gravitationsprinzip gearbeitet und im Keller alle modernen Vinifikationsmethoden genutzt. Neben den Stillweinen aus Tokaj entstehen hier auch die Grundweine für die Sauska-Schaumweine. Deren zweite Gärung und Flaschenreifung erfolgt dann in Budafok. Bei ihrer Herstellung wird der Önologe Gábor Rakaczki vom Régis Camus beraten, dem ehemaligen Kellermeister von Champagne Piper-Heidsieck.
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Das Familienunternehmen bedient also die ganze Palette an Weinmöglichkeiten. Weil die Schaumweine nicht nur aus Furmint, sondern auch aus Chardonnay und Pinot Noir produziert werden, gibt es entsprechende Stillweine aus Tokaj im Sortiment. Gerade beim Rotwein natürlich ein Tabubruch. Neben rebsortenreinen Cuvées (auch Sauvignon) gibt es bei den trockenen Weinen auch Einzellagen (rebsortenrein aus Furmint, Chardonnay oder Pinot Noir). Hier überragt der puristisch-straffe Furmint aus der Einzellage Birsalmás den Rest des trockenen Sortiments deutlich, er ist vielleicht der eindrucksvollste Weißwein des Weinguts. Die übrigen Weine, einschließlich der Schaumweine und süßen Tokajer, wirken insgesamt sehr perfekt vinifiziert, aber auch ein wenig glatt und erreichen nicht die Spitze. Bei den Schaumweinen etwa sehe ich den Wettbewerber Kreinbacher bereits ein Stück weiter. Sauska Aszú 6 Puttonyos aus dem Ausnahmejahr 2017 habe ich mehrfach verkostet. Er ist eindrucksvoll und dicht, aber es mangelt ihm im Vergleich zu den Top-Konkurrenten etwas an Vielschichtigkeit und Länge.
Disnókő: Französische Impulse
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Disznókő ist seit 1993 in Besitz des französischen AXA-Konzerns, ein Jahr, nachdem das Unternehmen auch Château Suduiraut in Sauternes erworben hatte. Zu dieser Zeit erwarben mehrere ausländische Investoren Teile des ehemaligen staatlichen Weinkombinates, was nicht alle in Tokaj begrüßten. Disznókő verwendete zu Beginn vor allem Sauternes-Fässer und pflegte eine „französisch inspirierte“ Weinherstellung. Damit war man mitten in der Diskussion „Tradition“ versus „Moderne“. Als 1995 einige Aszús vom lokalen Kontrollrat abgelehnt wurden, gründete man mit sieben weiteren Qualitätswinzern die Gruppe „Tokaj Renaissance – Verband klassifizierter Weinberge“, die wesentlichen Anteil an der Entwicklung des modernen Tokajers hatte. Wie bei anderen Weingütern auch, hat sich der Gegensatz modern-traditionalistisch allmählich in eine Mischform verwandelt. László Mészáros, seit 2000 der Direktor von Disznókő betont heute, dass der Stil des Hauses die „perfekte Balance zwischen der Reinheit der Frucht und der Komplexität der Botrytis cinerea, der Fülle und der Frische“, sei.
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Die Voraussetzung ist freilich in erster Linie das großartige Terroir: Denn Disznókő, die 1413 erstmals erwähnte namensgebende Lage des Weinguts, gehört zu den absoluten Spitzenlagen der Region. Hier, auf halbem Weg zwischen Mád und Tarcal, liegt auch das Weingut, wo neben dem alten Presshaus aus dem 19. Jahrhundert 1995 eine moderne Kellerei in Form einer ungarischen „Jurta“ erbaut wurde. Um Disznókő wurden weitere Flächen kultiviert, sodass das Weingut seine Trauben aus einem zusammenhängenden Stück Land gewinnt. Das Portfolio umfasst eine große Breite klassischer Weine, selbst einen trockenen („Száraz“) Szamorodni. Neben Furmint werden auch andere traditionelle Rebsorten kultiviert, aber keine internationalen. Die Aszús umfassen neben den Klassikern (5/ 6-Puttonyos sowie Escenzia) auch eine Art „Crème de tête“ namens Aszú V.P.T.S. sowie den 6-büttigen Einzellagen-Aszú Kapi aus dem Herzstück des Disznókő-Weinbergs. Weil der Besuch spontan stattfand, konnte ich nur den 5-Puttonyos verkosten, der für einen Tokaj bemerkenswert elegant und balanciert ist.
Tasting-Highlights
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Der Wein war Bestandteil einer Tokajer-Meisterklasse des „Budapest Wine Summit 2025“, die László Mészáros gemeinsam mit Péter Molnár vom Weingut Patricius abhielt. Die Stilistik des Disznókő illustrierte dabei gleich mehrere Eigenschaften des modernen Tokajers. Einmal die gute Säure, die der Wein dem Furmint verdankt. Sodann die klare Frucht, hier das Resultat einer Fasslagerung von nur zwei Jahren, die gesetzliche Mindestdauer. Und dann eine strukturgebende, zart bittere Phenolik. Sie ist vor allem das Resultat des Mazerationsprozesses zwischen den einzelnen edelfaulen, rosinierten Aszú-Beeren und dem Grundwein oder Most bis zum Stadium, wo sich eine Paste bildet. Diese Phenolik ist es, darauf wies László Mészáros nachdrücklich hin, die den Tokajer markant von anderen Süßweinen unterscheidet. Dazu war der 6-Puttonyos-Aszú 2003 von Lenkey das Gegenstück. Deren Weine reifen sehr lange im Fass und anschließend auf der Flasche. Hier dominierten, bei sehr guter Säure, sekundäre und tertiäre Aromen und war sogar etwas Safran spürbar.
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Die vielleicht größten Aszús gab es aber während der Verkostungen um und im Verlauf des Budapest Wine Summits. Noch in Tokaj begeisterte der 2019er 6-Puttonys von Harsányi, einem Weingut aus dem Nordosten der Region. Seine Komplexität verdankt sich auch dem Umstand, dass er komplett in neuem Eichenholz ausgebaut wurde. Ebenso ein reinsortiger Furmint war der gleichfalls spektakuläre 2017er 6-Puttonys von Demetervin aus der Máder Spitzenlage Király, also dem „Königsweinberg“. Einer der Stars des Budapester Tastings war der 2019er 6-Puttonys von Babits aus Szegi nördlich von Tokaj. Der vielfach preisgekrönte Wein faszinierte durch eine enorme Klarheit.
Zum finalen Höhepunkt musste man aber zur Burg von Buda, zu András Bruhács von Tokaj Classic. Der hatte zunächst nach seiner Emigration als Cellist in Deutschland Karriere gemacht. Nach der Wende belebte er mit zwei Partnern das Weingut seiner Familie in Mád wieder neu. Bruhács präsentierte einige Spitzen wie den perfekt gereiften 6-Puttonys von 1999 und die Aszú-6-Puttonyos-„Auslese“ Quintessenz von 2018. Beim Essencia von 2013 hielt die Zeit schließlich den Atem an. Ebenfalls aus dem Kiraly-Weinberg stammend, enthält der Wein 538.5 Gramm/Liter Restsüße und 3,5 Prozent Alkohol bei einer elektrisierenden Säure. In ihm meinte man wirklich der Essenz, dem inneren Wesen des Tokajers, nahe gekommen zu sein.
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Bildlegenden und Danksagung
Titelbild sowie Bild 1 und 2: Weingut Disnókő während der Weinernte 2025
3, 4 und 6: Impressionen vom Weingut Holdvölgy
5 : Natália Démko, Mitbegründerin von Holdvölgy
7: Gábor Rakaczki, Önologe und Betriebsleiter von Sauska/Tokaj, inmitten von Kollegen
9: László Mészáros, Direktor von Disznókő
Abschlussbild: András Bruhács, Mitbegründer von Tokaj Classic
Die Reise nach Tokaj und Budapest erfolgte auf Einladung und auf Kosten von Wines of Hungary im Rahmen des „Bor 2025 | Budapest Wine Summit“ und wurde auf deutscher Seite durch ff.k Public Relations koordiniert. An dieser Stelle danke ich noch einmal allen Organisatoren und den beteiligten Weingütern.
Bildrechte
Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images





