Als professioneller Kritiker trinkt man über das Jahr viele gute Weine. Wenn man für die „Fine“ schreibt und einen Blog „sur la pointe“ betreibt, ganz besonders. Einen Wein während einer Probe zu bewerten ist freilich das eine. „Einen Wein verstehen“, hat mich Verleger und Sommelier-Legende Ralf Frenzel gelehrt, „kann man erst, wenn man die Flasche ausgetrunken hat.“ In meine Top-5-Liste nehme ich daher nur Weine auf, die ich nicht bei einer Verkostung getrunken habe. Sondern im privaten Rahmen und „in ausreichender Menge“.
Pierre Péters Champagne Rosé for Albane Brut (deg. 2020/07/15)
Unter den Rosé-Champagnern ist diese Cuvée sicher eine der ungewöhnlichsten. Tatsächlich hat das Weingut Pierre Péters bis 2008 ausschließlich Blancs de Bancs produziert. Kein Wunder, stammt die Familie doch aus Le-Mesnil-sur-Oger, einem Leuchtturm der Chardonnay-Produktion in der Champagne. 2009 lancierte Rodolphe Péters aber eine nach seiner Tochter benannte Cuvée. Die war ungewöhnlich in ihrer Assemblage wie Produktionsweise. So besteht der Blend aus 60 Prozent Chardonnay der Einzellage Les Musettes (hier: Jahrgang 2016) sowie einem kleinen Anteil von Reserveweinen. Sowie 40 Prozent einer „Saignée“ aus Chardonnay und Pinot Meunier, die sowohl gemeinsam mazerieren wie fermentieren. Wobei der Pinot Meunier vom befreundeten Haus Geoffroy in Cumières stammt.
Péters Intuition war dabei, dass dadurch statt der üblichen Aromatik von roten Beeren Noten von Grapefruit entstehen sollten. Das war ein Volltreffer und vermutlich ein Grund, warum sich Brad Pitt und die Familie Perrin bei der Suche nach einem Kooperationspartner für das Rosé-Champagner-Projekt Fleur de Miraval ausgerechnet mit Rodolphe Péters zusammengetan haben. Leider sorgte die anschließende enorme Popularität dafür, dass der Rosé for Albane nahezu unauffindbar wurde. Meine Flasche − sinnlich, raffiniert, elegant − war die letzte aus einer Sonderabfüllung für den großartigen Händler Salvatori in Épernay. Nun habe ich aus „gut informierten Kreisen“ gehört, dass die Produktion des Rosé for Albane wegen des Fleur de Miraval eingestellt werden soll. Damit wäre mein Artikel so etwas wie ein Nachruf – und das wäre schade … 94 Punkte
Henri Boillot Bienvenues-Bâtard-Montrachet 2015
Eigentlich dürfte ich das nicht schreiben. Aber noch mehr als große Pinot Noirs aus dem Burgund liebe ich seine großen Chardonnays. Dieses Bekenntnis ist bei Kritikern vermutlich immer noch Minderheitsmeinung, bei Liebhabern und Sammlern aber findet es sich immer öfter. Als Resultat sind die Preise großer weißer Grand Crus beinahe noch dramatischer gestiegen als die ihrer roten Pendants. Vor allem die Preise der Weine aus den fünf Lagen an der Grenze zwischen Chassagne- und Puligny-Montrachet unterhalb des Mont Raphael können schnell die Vierstelligkeit erreichen. Entsprechend geht deren Verfügbarkeit in Deutschland gegen null. Aus meinem Keller sind sie schon länger verschwunden.
Dass sich dieser phantastische Bienvenues dennoch in dieser Liste findet, habe ich der Großzügigkeit eines Château-Besitzers aus dem Bordelais zu verdanken, der den Wein zu einem gemeinsamen Lunch servieren ließ. Tatsächlich füllt Henri Boillot von diesem Wein nur ein Fass (!) ab. Da der Maison die Reben in diesem Grand Cru nicht gehören, firmiert sie in diesem Fall als Négociant. In der inoffiziellen Klassifikation der Grand Crus liegt (der wegen seiner kleinen Menge sehr teure) Bienvenues gemeinsam mit Batard über Criots, aber unterhalb von Chevalier und Le Montrachet. Wie auch immer. Jedenfalls demonstriert der Wein die überlegene Klasse des Terroirs gerade in einem für Weißweine so schwierigen, weil heißen Jahr wie 2015.
Bei all meinen Verkostungen weißer Burgunder hatten die 2014er wegen ihrer hohen inneren Spannung und des animierenden Säurerückgrats die Nase vorne gegen die etwas breiten und behäbigen 2015er gehabt. Bei diesem Wein regiert allerdings die pure Delikatesse: perfekt eingebundenes Holz, große aromatische Dichte, stilbewusste Eleganz. Wer immer über große trockene Weißweine redet, muss Weine von dieser Klasse getrunken haben. Ansonsten bleibt es beim Gerede. 97 Punkte
Domaine de L’Eglise Pomerol 1955
Für die Liebe zu altem Bordeaux braucht man eine gehörige Frustrationstoleranz: Nicht nur wegen der immer schwierigeren Verfügbarkeit und den explodierenden Preisen, sondern vor allem wegen der unsagbar vielen Fälschungen auf dem Markt. Gegen die leider, das muss man an dieser Stelle einmal sagen, die Auktionshäuser hierzulande nahezu nichts unternehmen! Diese Flasche, getrunken bei einem guten Freund und Sammler, gehörte dagegen zu den Sternstunden: mit perfekter Reife, schönster Balance aus mürben Tanninen, dezenter Altersüße, komplexen Tertiäraromen und einer letzten Ahnung von Primärfrucht. Heute heißt das Weingut, wohl das älteste in Pomerol, Château du Domaine de L՚Eglise. Seit 1973 gehört es der Familie Castéja, renommierten Négociants aus Bordeaux. Die Weine von hier sind alle von zuverlässiger, teilweise sehr guter Qualität. Der 1955er aber war nicht nur gut, er war groß! Was ist sein Geheimnis?
Zunächst einmal muss man wissen, dass es in der Geschichte von Pomerol ein Jahr gibt, dass die Zeitrechnung in ein davor und ein danach teilt. Dieses Jahr ist 1956, in der der große Frost nahezu 90 Prozent der Weinberge zerstört hat und infolgedessen fast alle Weinberge mit staatlicher Unterstützung mit starkwüchsigen Merlot-Klonen bepflanzt wurden. Auf der Domaine de L’Eglise wurde traditionell je zu einem Drittel Merlot, Cabernet Franc und Cabernet Sauvignon angebaut, heute zu 95 Prozent Merlot.
Dabei ist die Lage des Weinguts außerordentlich: Im „Cocks & Feret“ von 1969 heißt es: „Der Weinberg (des Gutes) findet sich im Schatten des Kirchturms von Pomerol und könnte nicht besser situiert sein. Seine Weine sind … sehr gesucht in Frankreich und im Ausland.“ Bernard Ginestet zählte das Weingut in seinem hervorragenden Pomerol-Buch von 1984 zu den zehn besten Crus von Pomerol. In der von ihm wiedergegebenen Pomerol-Klassifizierungen von Feret (1929) rangiert das Gut unter den „1ers Crus“ auf einer Stufe mit Lafleur und Conseillante, in der Händler-Klassifikation von 1941 ist es ebenbürtig mit La Fleur Pétrus und steht über Clinet. Der 1955er, aus einem in Pomerol großartigem Jahrgang, war vermutlich der Schwanengesang dieses Weinguts. 96 Punkte
Domäne Bensheim Heppenheimer Centgericht Riesling Eiswein 1992
Eine Rarität, und das nicht nur, weil die Produktion von Eisweinen wegen der Klimakrise immer schwieriger wird. Hier liegt der Grund freilich vor allem in der komplizierten Geschichte der Domäne Bensheim. 1904 als Großherzoglich-Hessische Weinbaudomäne in Bensheim an der Bergstraße gegründet, wurde sie 1946 gemeinsam mit Kloster Eberbach Teil der Hessischen Staatsweingüter. Nach einer Restrukturierung werden heute die Trauben zwar noch an der Bergstraße geerntet, aber in der Domäne Steinberg im Rheingau vinifiziert. Die 1972 begonnene Tradition der Eiswein-Produktion endete mit dem letzten Jahrgang 2012. Der 1992er-Eiswein stammt noch aus der „glorreichen“ Bensheimer Zeit unter Verwalter Heinrich Hillenbrand, dessen Großvater der erste Verwalter der Domäne war. Die Flasche zeigt sich gut gealtert und beeindruckt durch monumentales Breitbildformat: Getrocknete Feigen, Trockenkräuter und Lavendelhonig in der Nase, mit cremiger Opulenz und großer Länge. Die Säure ist für einen Eiswein recht weich, puffert aber die enorme Süße gut ab. 97 Punkte
Argyros Estate Vin Santo Late Release 2001
Anfang November waren einige Winzer der griechischen Kykladen-Insel Santorini in Berlin zu Gast und präsentierten ihre Weine. Aus dem beeindruckenden Sortiment an trockenen Assyrtiko-Weinen stach damals die Cuvee Monsignori der Estate Argyros heraus, der von über hundert Jahre alten Rebstöcken vom Weinberg der kleinen katholischen Kirche der Insel stammte (hier meine Notiz auf Instagram). Regelrecht umgehauen aber hat mich der Vinsanto Late Release, der von Assyrtiko-, Aidani- und Athiri-Weinbergen in Episkopi stammt, die sogar über 200 Jahre alt sind. Geerntet wird bei minimalen Erträgen gut ein Monat nach der Hauptlese, es folgen zwei Wochen Trocknung in der Sonne sowie Fermentation in Beton und 16 Jahre (!) Ausbau in alten Holzfässern unterschiedlicher Größe.
Dank der Großzügigkeit des Weinguts konnte ich den Wein zu Hause nachverkosten: Tatsächlich ein Monument, mit einem enormen Zuckergehalt von 285 Gramm, aber auch mächtiger Säure. Ein Wein, den man wegen seiner Textur beinahe kauen kann. Und dabei so unglaublich komplex und vielschichtig, mit Noten von getrockneten Feigen und Aprikosen, Schokolade und Molasse. Sehr intensiver, und enorm langer Abgang, der einen zum Meditieren bringen kann … Weil sich die Qualität dieses Elixiers herumgesprochen hat und Kollegen, nicht zuletzt in Robert Parker’s Wine Advocate, sehr hohe Punkte vergeben haben, ist der Wein freilich kein Schnäppchen mehr. 98 Punkte
© Fotos: Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images