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Pascaline Lepeltier: Mille Vignes

„Penser le vin de demain“: Den Wein von morgen denken. Pascaline Lepeltier hat keinen geringeren Anspruch. Tatsächlich setzt das Buch der preisgekrönten Sommelière und studierten Philosophin neue Maßstäbe. Keine andere Darstellung zum Wein deckt ein ähnlich breites Themenspektrum ab und vermittelt virtuoser den modernen Erkenntnisstand. Dass Lepeltier darüber hinaus eine weinpolitische Agenda hat, ist freilich Stärke wie Schwäche zugleich.

7 Minuten Lesezeit
Pascaline Lepeltier © Cedric Angeles

Wein steckt in der Krise. Als Produkt an sich, in der Produktion und auch in der Konsumption. Alkohol selbst steht unter erheblichem neo-prohibitivem Druck, aufgebaut durch militante Suchtprävention und ein interventionistisches staatliches Gesundheitswesen. Als landwirtschaftlicher Subsektor wird der Weinbau vielfach für Umweltverschmutzung, Erosion und Klimaschäden verantwortlich gemacht. Der Konsum selbst geht weltweit seit Jahren vor allem in jüngeren Alterskohorten stark zurück und verliert etwa in Frankreich lediglich bei den Rentnern nicht an Boden. Es ist offensichtlich, dass daran keine kosmetischen Operationen etwas ändern werden. Lepeltier ist sich dessen völlig bewusst, und ihre Antwort ist klar: Es ist der Wein selbst, der sich ändern muss. Am Ende ihrer weit ausholenden Darstellung über das, was Wein ist und was ihn prägt, gibt sie deshalb einen Ausblick auf den „Wein von morgen“. Ein ambitioniertes Programm, aber notwendig und unbedingt „an der Zeit“.

Lire la vigne, lire les paysages, lire le vin

Wein ganzheitlich denken: Der Rebstock der Permakultur

Lepeltier hat ihr Buch in drei Teile aufgeteilt, in denen jeweils der Weinberg, die Landschaft und schließlich der Wein selbst im Mittelpunkt steht. Dadurch stellt sie sich in die Tradition der „Zurück in den Weinberg“-Bewegung, die seit den 1980er-Jahren die Exzesse der kellertechnischen Innovationen im Weinbau durch eine naturnahe (oftmals biologische oder biodynamische) Bewirtschaftung korrigiert hat. Im Buch manifestiert sich das mit ausführlichen und sehr gelungenen Darstellungen (auch wegen der Illustrationen von Loan Nguyen Thanh Lan). In Teil eins etwa zum Vegetationszyklus der Rebe und dessen Morphologie sowie zur Mikrobiologie des Bodens. Anregend sind hier insbesondere Lepeltiers Überlegungen zum Verhältnis von Edelreis und Unterlagsrebe.

Die Bedeutung des Mikrobioms

Allerdings bleibt es für die Autorin nicht einfach bei einer Änderung der Blickrichtung. In Anlehnung an Konzepte eines ganzheitlich-holistischen Naturverständnisses schlägt sie vor, Reben nicht mehr als bloßes Pflanzmaterial zu begreifen, nicht einmal als biologisch selbstständiges Individuum, sondern als Kollektivwesen, als Kolonie. Mit diesen sollte dann gemeinsam, im Sinne eines Gaia-Konzeptes der Erde (Bruno Latour), eine neue „Kultur des Lebendigen“ erprobt und ein künftiger „diplomatischer Weinbau“ der Zukunft betrieben werden. An diesem Punkt stellt Lepeltier eine Vielzahl von alternativen Bewirtschaftungsweisen wie Biodynamie, Permakultur oder Weinforstwirtschaft vor, die sie mit Empathie, aber immer sachlich präsentiert.

Eine Metaphysik des Weingenusses

Doch der Autorin geht es gerade beim Blick auf die Rebe noch um weit mehr, nämlich sozusagen um eine metaphysische Grundlegung des Weingenusses. Tatsächlich begreift sie mit Goethe und Rudolf Steiner (sowie dem nicht genannten, aber im Hintergrund stehenden Zentralbegriff des „élan vital“ von Henri Bergson, dem Philosophen, über den die Autorin ihre Diplom-Arbeit geschrieben hat) Pflanzen letztlich als reine Metamorphosen des Lebendigen, als beständig sich wandelnder Vitalprozess, der sich bei der Rebe (nach Steiner) wie bei keiner anderen Pflanze bis schließlich in die Beere hinein „ergießt“. Diese vitalistische Deutung der Rebe wird dann die Folie sein, vor der Lepeltier das Idealbild der „Vins vivants“, der „lebendigen Weine“, entfaltet. Hier versündigt sich jeder Versuch, diese ursprüngliche Lebendigkeit durch önologische Techniken zu ersticken oder auch nur einzugrenzen, gleichsam an der Natur selbst.

Übersicht über unterschiedliche Reberziehungssysteme in „Mille Vignes“

Die Autorin bemüht in dieser Grundlegung einer Philosophie der Weinrebe (wenn man es so nennen möchte) die ganze Rhetorik der französischen dekonstruktivistischen Denktradition. Von der „Falle des epistemologischen Anthropozentrismus“ ist die Rede bis hin zur „Wiederbelebung von Wissensbrücken, wie sie bis zur Aufklärung existieren konnten“. Tatsächlich aber ist ihre Denkfigur reinste Lebensphilosophie der vorletzten Jahrhundertwende. In der deutschsprachigen Rohkostbewegung nach 1900 haben diese Gedankengänge zur Vorstellung von in der Nahrung gespeicherter „Sonnenenergie“ und dem Wuchsstoff „Auxone“ geführt und die Rede von „Kraftwerten und „energetischen Wertskalen“ (Bircher-Benner, Kollath) inspiriert. „Lebendige“, nicht-prozessierte „Vollwertkost“ wurde polemisch der „toten Zivilisationskost“− minderwertige „Halbnahrung“ − gegenübergestellt, was dann umgehend vom Nationalsozialismus aufgegriffen wurde. Ein Umstand, der bis heute von der deutschen Rohkost- und Reformhausbewegung nicht angemessen aufgearbeitet worden ist. Dabei soll Lepeltier keinesfalls eine Nähe zu rechten Ideologien unterstellt werden. Es soll aber deutlich sein, auf welchem dünnen Eis sich jede vitalistische Argumentation bewegt.

Ein reflektiertes Terroir-Konzept

Geologische Übersichtskarte

Im Kapitel „Lire le paysage“ befindet sich die Autorin wieder auf weniger umstrittenen Terrain. Geologie, Klima und Terroir sind seit dem 19. Jahrhundert die Eckpfeiler in der französischen Diskussion über die Verknüpfung von Herkunft und Qualität von Lebensmitteln. Lepeltier knüpft hier an die Vorarbeiten des großen Geografen und Weinhistorikers Roger Dion an, der das Terroir-Konzept in erster Linie als soziales und nicht geologisches Faktum begriffen hat. Eine noch stärkere Fundierung hätte das Kapitel durch Rückgriff auf Paul Vidal de la Blache haben können. Der war als Vordenker der französischen Anthropogeografie im 19. Jahrhundert ein Vordenker der Regionalisierung Frankreichs und geistiger Vater der AOC-Gesetzgebung 1935. Über Lepeltiers ambivalente Haltung zur heutigen Situation der kontrollierten Ursprungsbezeichnungen kann man sicher diskutieren. Sie ist aber in weiten Teilen nachvollziehbar.

Stiefkind Vinifikation

Unterschiedliche Weinbauzonen in Frankreich

Der abschließende Teil „Lire le Vin“ fällt dagegen etwas ab, vor allem das Kapitel zur Vinifikation. Das liegt vermutlich daran, dass für die Autorin aufgrund ihrer „nicht-interventionistischen“, Weinberg-zentrierten Weltanschauung die Arbeit in der Kellerei – mit Ausnahme des Themas Hefen und der „Alchimie“ des Fassausbaus − einfach der am wenigsten interessante Teil der Weinproduktion ist. Tatsächlich haben zeitgeistbewusste Winzer und Winzerinnen weltweit das Narrativ in die Welt gesetzt, dass der Wein heute im Weinberg und nicht mehr im Keller gemacht würde. Dass also die önologische Aufrüstung der 1980er- und 1990er-Jahre ein Relikt vergangener Zeiten sei und sich der Wein heute – Hygiene und gute Fässer einmal vorausgesetzt – bei verantwortungsvoll arbeitenden Winzern heute mehr oder weniger von selbst macht. Das Gegenteil ist richtig.

Tatsächlich wissen wir heute über alkoholische und malolaktische Fermentation, über Farbstoff- und Aromenbildung sowie Tannin-Management unvergleichlich viel mehr als noch vor 20 Jahren. Und so sind auch die Mittel zu ihrem „Monitoring“ beträchtlich erweitert worden. Nicht von ungefähr ist „Definition“ das Buzzword der modernen Weinwelt. Bordelaiser Topwinzer vergleichen ihre Weine von heute mit „4K“-Aufnahmen im Gegensatz zu den „Sepia-Fotografien“ der Vergangenheit. Gerne hätte ich etwas von der Autorin zu diesem modernen Präzisionsweinbau erfahren. Zu den verschiedenen Traubensortieranlagen, zur Kaltmazeration und Smart Vats etwa oder zu Vor- und Nachteilen moderner pneumatischer versus traditioneller Korbpressen. Vielleicht ist es nur Desinteresse, aber man hat doch den Eindruck, dass das Buch an dieser Stelle nicht auf der Höhe der Zeit ist. Dass man auch über das Thema Vinifikation grundsätzlich zu einer Philosophie des Weins gelangen kann, hat etwa Clark Smith in „Postmodern Winemaking“ skizziert. Darin verwirft dieser etwa das klassische „Wässrige Lösung“-Modell und stößt anhand eines Kolloid-Konzepts zum Verständnis von Weinproduktion als einem Strukturbildungsprozess vor.

Paradigmen der Degustation

Agroforstwirtschaft im Château de Fosse-Sèche

In einem Interview mit „Le Figaro“ hat Lepeltier unlängst die rhetorische Frage gestellt, „ob es wirklich möglich sei, in einem Wein die Essenz des Landes zu schmecken, aus dem er stammt“ und die Antwort mit dem Finden des „Heiligen Grals“ vergleichen. Wenn man im Wein in erster Linie „Terroir-Essenz“ und vitale Energie sucht, müssen natürlich konventionelle Herangehensweisen verblassen. Entsprechend präsentiert die Autorin im Degustationskapitel in erster Linie das „geosensorielle“ Verkostungsraster von Jean-Michel Deiss und Jacky Rigaux. Nach diesem werden Weine unter anderem nach Kategorien wie „Lebendigkeit“ (von „tot“ bis „überschwänglich“), ihrer geometrischen „Form“ („spitz“, „rechteckig“, „sphärisch“) oder „Wein mit Herkunft“ („ja“ oder „nein“) beurteilt.

Ist es wirklich möglich, in einem Wein die Essenz des Landes zu schmecken, aus dem er stammt? Das ist im Moment der Heilige Gral.

Pascaline Lepeltier

Klassische Paradigmen der Degustation werden zwar erwähnt, aber in ihrer Relevanz kaum diskutiert: etwa das aromen-, insbesondere fruchtbetonte Modell im Anschluss an Ann C. Noble (aber auch, worauf Olivier Jacquet hingewiesen hat, Jules Chauvet) oder das texturbasierte Modell, wie es etwa im Mouthfeel Wheel des australischen Teams um Richard Gawel zum Ausdruck kommt. Beim Kapitel Service verwundert, dass die Autorin nicht die Argumentation von Esther Mobley aufgegriffen hat, die 2020 in ihrem Artikel „Wine’s diversity issue starts with the way we talk about the taste of wine“ im „San Francisco Chronicle“ die mangelnde Diversität des klassischen Wein-Vokabulars vor dem Hintergrund einer nahezu ausschließlich west-europäischen Begriffsprägung angeprangert hatte. Tatsächlich steht eine Reflexion über die unverkennbare „Race-Class-Gender“-Prägung unserer Weinsprache noch ziemlich am Anfang.

Eine neue Mythologie des Weins

„Mille Vignes“ ist ein Buch, in dem man viel lernen kann über den Wein von heute. Aber es ist auch ein kämpferisches Buch, ein Buch, das Dinge verändern möchte. „Den Geschmack des lebendigen Weins wiederzufinden“, schreibt Pascaline Lepeltier an einer Stelle, sei „eine eminent freudige und politische Geste des Widerstands“. Wenn sie Namen wie Alice Feiring, Isabelle Legeron oder Jonathan Nossiter zitiert, wird deutlich, wo die Autorin „weinpolitisch“ steht. Aber anders als jene lässt sie weniger weltanschauliche Härte spüren. Lepeltier, zum Wein durch eine Flasche 1937er Château d’Yquem gekommen, ist eine ständige Kolumnistin in der „Revue du vin de France“ und ist gerade unter großer Anteilnahme des französischen Weinpublikums bei der Sommelier-Weltmeisterschaft im Halbfinale ausgeschieden. Überraschend geschmeidig vollzieht sie den glaubhaften Spagat zwischen Naturwein-Szene und Fine-Wine-Publikum.

Am Ende des Buches gibt Pascaline Lepeltier eine mitreißende Aussicht auf eine „neue Mythologie“ des Weins. Mit Blick auf die weltanschauliche, missionarische Aufladung der wichtigsten Gegenwartsdiskurse hofft der Rezensent aber, dass diese nicht die Sache einer quasi-religiösen Gemeinde und „ein Akt des Glaubens“ sein wird, wie die Autorin in Anschluss an Nossiter schreibt. Sondern, um es mit Friedrich Nietzsche und einer Formulierung aus der deutschen Romantik zu sagen, ein Projekt von Freigeistern, eine „Mythologie der Vernunft“. Der Schlusssatz des Buches lautet: „Die kommende Revolution, die so notwendig ist, kann nur eine Revolution des Gaumens sein.“ Das ist auf jeden Fall, und da ist der Autorin uneingeschränkt zuzustimmen, ein Kampf, der sich lohnt.

Stefan Pegatzky

Der Autor hat vor seiner weinjournalistischen Arbeit Deutsche Literatur und Philosophie studiert und eine Dissertation zur Ästhetik verfasst. Das Buch „Agrikultur. Über Landwirtschaft, Herkunft und Geschmack“ ist in Vorbereitung.

Pascaline Lepeltier: Mille Vignes. Penser le vin de demain
Hachette Vins
352 Seiten, Hardcover, Format: 277mm x 237mm, zahlreiche farbige Abbildungen

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