Manche lieben sie, manche hassen sie. Einigen gilt schon als Sakrileg, dass der Name der Kategorie englisch und nicht italienisch ist. Am Begriff „Supertuscan“ entzünden sich viele der Kontroversen, die heute die Weinwelt beschäftigen. Wein und Globalisierung sowie Terroir-Verbundenheit und Brand-Building stehen dabei an erster Stelle. Als die ersten der späteren Supertuscans erschienen, ging es noch um die Renaissance des italienischen Weinbaus. In den Neunzigerjahren surften die neuen Tafelweine (ab 1995: IGTs) auf der perfekten Welle des internationalen Weingeschmacks. Die Trendwende um 2010 traf die Weine erst einmal hart. Doch die meisten von ihnen erlebten bald darauf ein eindrucksvolles Comeback. Wo stehen die Supertuscans heute?
Ein Blick zurück
1968 und 1971 sind die beiden initialen Jahre, die den toskanischen Weinbau verändern sollten. Denn vom Jahrgang 1968 haben 1971 zwei Weingüter jeweils eine Cuvée vorgestellt, die mit den alten Codes radikal brach. Einmal der Sassicaia von Marchese Nicolò Incisa della Rocchetta aus Bolgheri nahe der toskanischen Küste. Parallel der Vigorello des Weinguts San Felice aus Castelnuovo Beradegna, einer der historischen sieben Gemeinden des Chianti Classico. Diese bilden die zwei Wurzelstränge der späteren Supertuscans. Der eine, weil er komplett aus Bordeaux-Rebsorten komponiert worden war. Der andere, weil er zu 100 Prozent aus Sangiovese bestand, was den damaligen Chianti-Regularien widersprach. Beide Weine entstanden als Kritik am Zustand des toskanischen Weinbaus (der Vigorello wurde ab 1974 als „Vino da Tavola Riserva“ etikettiert!). Aber ihre Antwort darauf war jeweils verschieden. Bordeaux und Sangiovese jedenfalls sollten nun die beiden Pole sein, um die neuen Weine der Toskana kreisen sollten.
Saissicaia und Vigorello erhielten rasch Nachfolger, aber es sollte bis zum Methanolskandal 1986 und dem darauf folgenden „italienischen Weinfrühling“ dauern, bis sich die neuen „Vino da tavola“ auch international durchsetzten. Doch die Vorlieben der internationalen Weinkritik und die große Abhängigkeit vom US-Konsumentengeschmack veränderten die Weine. In den Augen vieler einheimischer Beobachter wurde die Eigenart der „fuoriclassa“, der Extraklass der toskanischen Weinproduktion, immer weiter kompromittiert. Spätestens nach dem Brunello-Gate, als der häufig praktizierte, aber illegale Verschnitt beim Brunello mit Merlot und Cabernet aufflog, wendete sich das Blatt. Als dann auch noch die Finanzkrise kam, titelte Christian Eder im März 2013 in der „Vinum“: „Mythos Supertoskaner. Das Ende einer Ära?“.
Tatsächlich hatte sich unterdessen der Chianti einer Radikalkur unterzogen. Mit dem ambitionierten „Chianti 2000“-Projekt etwa und den Regularien für die neue Spitzenkategorie „Gran Selezione“. Und zuletzt 2024 der Einführung von 11 herkunftsbezogenen Unterappellationen (UGA). Verdrängen nun die neuen Chianti-Crus die Supertuscans? Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Von den sieben toskanischen Weinen des Livex-100, des wichtigsten Handelsindices zum Weinsekundärmarkt, sind sechs Supertuscans. Im Sub-Index Italy-100 wird die Toskana ausschließlich durch Supertuscans repräsentiert. Das folgende Tasting widmet sich vier ganz unterschiedlichen Repräsentanten aktueller Jahrgänge.
1. Isole e Olena Cepparello 2021
Von allen hier vorgestellten Weingütern verkörpert Isole e Olena aus der Chianti-Subzone San Donato in Poggio die traditionellste Herangehensweise. Es ist der einzige Betrieb in diesem Quartett, das neben einem Chianti Classico auch Vin Santo produziert. Durch die ehemalige Besitzerfamilie De Marchi ist Isole e Olena eng mit der Renaissance des toskanischen Weinbaus in den Achtzigerjahren verbunden. Als Paolo de Marchi das Weingut 1976 mit 25 Jahren übernahm, ging es ihm vor allem um den Chianti, dessen Qualität er dramatisch verbessern wollte. Das bedeutete für ihn den Verzicht auf weiße Trauben im Blend. Das war freilich nur durch bessere Sangiovese-Trauben möglich. So richtete sich seine Konzentration auf den Weinberg, was zu einer tiefen Kenntnis der verschiedenen Bodentypen und einer aufwendigen Massenselektion der besten Rebstöcke des Gutes führte. 1980 wurde der erste Cepparello vorgestellt, ein hundertprozentiger Sangiovese als Cuvée der besten Partien des Gutes, wegen der Regularien als Tafelwein etikettiert.
Seit 2023 ist die EPI-Gruppe um Christopher Descours Besitzer von Isole e Olena. Diese besitzt neben der Brunello-Legende Biondi-Santi auch die Champagnerhäuser Charles Heidsieck und Piper-Heidsieck. Unter dem neuen Gutsdirektor Emanuele Reolon soll sich an der Philosophie des Gutes nichts ändern. Der Cepparello ist nach wie vor als „Supertuscan“ das Flaggschiff des Gutes. Daneben gibt es die schon unter De Marchi eingeführte Reihe reinsortiger Abfüllungen französischer Rebsorten (Chardonnay, Syrah, Cabernet) unter dem Namen „Collezione Privata“. Preislich erreicht der Cabernet den Cepparello mittlerweile. Aber die Collezione-Reihe wird als „avantgardistische“ Weine kommuniziert, sozusagen als experimentelle Sidekicks neben den großen Klassikern. Der 2021er Cepparello ist jedenfalls außergewöhnlich gut gelungen. Leuchtendes Rubinrot im Glas. Im Bouquet zunächst dunkle Beeren, Minze und Rauch, später auch Kirschen und Thymian sowie Würznoten wie Nelke und Piment. Am Gaumen mit feinen Tanninen, vielschichtig und mit großer Klarheit, Frische und enormer Länge (97 P.).
2. Castello di Vicarello und Terre de Vico 2018
Castello di Vicarello hat mit dem Jahrgang 2018 die reifsten Weine der Verkostung vorgestellt. Zudem sitzt das Weingut in Poggi del Sasso in der Alta Maremma, südlich der klassischen toskanischen Weinbauregionen. Es ist damit das einzige der vier, das nicht aus dem Chianti Classico stammt. Das Weingut geht auf ein Bordeaux-Erweckungserlebnis des Unternehmers Carlo Baccheschi Berti Ende der Neunzigerjahre zurück. Nachdem er zuvor ein alten Castello aus dem 12. Jahrhundert restauriert hatte, beschloss er, dort französische Reben anzupflanzen. Heute bewirtschaftet das Weingut insgesamt 6 Hektar, die sich auf drei Einzellagen verteilen. Hiervon werden derzeit 5 Weine abgefüllt, allesamt IGTs, obwohl zumindest der Terre de Vico auch die DOC Maremma Toscana Rosso tragen dürfte. Interessanterweise bezeichnet das Weingut den Terre de Vico als seinen „Supertuscan“. Den Castello di Vicarello will es dagegen als seinen Grand Vin, also einen Blend im Sinne eines Médoc-Châteaus verstanden wissen.
Die Familie ist stolz auf die hohe Pflanzdichte der Reben. Dazu sind die Weine zweifach biologisch zertifiziert. Der Terre di Vico 2018 ist ein Blend aus 70% Sangiovese und 30% Merlot der Einzellage Poggio di Vico. Anders als der Castello fermentiert er (teilweise) im Edelstahl und der Cabernet reift in gebrauchten Barriques. Die Nase präsentiert sich mit intensiven Sauerkirschen, Himbeeren und Kiwis, dazu leicht wilde Pferdestall-Noten. Am mittelgewichtigen Gaumen kommen Noten von Brombeeren und Schokolade dazu. Im Mundgefühl weich, offen und hedonistisch, aber mit guter Säure. Die Tannine sind etwas gröber als die des Vergleichsfeldes (90 P.). Castello di Vicorello 2018, 45% Cabernet Sauvignon, 45% Cabernet Franc, 10% Petit Verdot von der Lage Vigna del Castello, zeigt neben klassischem Beerenkompott auch Noten von Likör, Unterholz und Rauch. Die Säure ist weicher, dafür ist das Mundgefühl fleischiger und die Tannine wirken polierter. Schöner Trinkfluss, braucht keine lange Lagerung mehr (92 P.).
3. La Massa Giorgio Primo
Das Weingut La Massa von Giampaolo Motta weist eine Reihe überraschender Parallelen zu Castello di Vicarello auf. La Massa ist zwar das 12 Jahre ältere Projekt – der Premierenwein erschien 1992, bei Vicarello 2004. Zudem befinden sich die 25 Hektar Weinberge in der berühmten Conca D’Oro der Chianti-Gemeinde Panzano, mit bis zu 500 Metern Höhe um gut 300 Meter höher als Vicarello. Aber das Angebot ähnelt sich verblüffend: Da sind zwei rebsortenreine Weine: hier Carla 6 (Sangiovese) und Asiram (Merlot), dort Merah (Sangiovese), Poggio Vico (Petit Verdot) sowie der Rosé Santaurora (Malbec). Auch Motta bezeichnet seinen Zweitwein La Massa als Supertuscan. Einstmals als Chianti etikettiert, ist die Cuvée aus Sangiovese und französischen Rebsorten heute ein IGT. Den Giorgio Primo begreift der Winzer dagegen – analog dem Castello di Vicarello – ausdrücklich als Grand Vin nach Bordeaux-Vorbild. Im Jahrgang 2020 besteht der Blend aus Cabernet Sauvignon (75%), Merlot (15%) und Petit Verdot (10%).
Zudem stammt auch Giampaolo Motta nicht aus der Toskana und rührt sein Impuls zum Weinmachen aus der Liebe zu Bordeaux-Blends her – die übrigens während seines Chemie-Studiums in Lyon entstand. Aber Motta hat vor der Gründung seines Weinguts bei renommierten Adressen des Region gearbeitet hat. Und er hat, nicht zuletzt durch Berater wie Carlo Ferrini und Stéphane Derenoncourt, einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung. So war La Massa bereits in den Neunzigerjahre ein Pionier in der geologischen Zonierung der Weinberge, weshalb der Interaktion von Böden und Rebe heute ein Hauptaugenmerk gilt. Zudem arbeitet das Weingut mit besten französischen Tonneliers zusammen, die teilweise individualisierte Fässer liefern. Das wird bei der Verkostung unmittelbar deutlich. Zunächst nur verhalten, öffnet sich das Bouquet schnell regelrecht dramatisch, mit Rosen, Cassis und Gewürznoten. Am Gaumen dichter als ein klassischer Médoc, mit enorm feinen Tanninen und einer fast an Napa-Crus erinnernden Großzügigkeit. Kurz: das, was man von einem Supertuscan erwartet (95 P.). Kein Wunder, dass der Wein heute über La Place de Bordeaux vertrieben wird.
4. Volta di Bertinga 2019
Bertinga ist das jüngste Weingut in dieser Auswahl. Gegründet wurde es 2015 von Maxim Kashirin und Anatoly Korneev, Eigentümern der russischen Simple Group. Die hat sich aus bescheidenen Anfängen 1994 als Importeur von italienischem Wein heute als zu einem der führenden Fine-Wine-Händler Russlands mit beeindruckendem „Ökosystem“ entwickelt. Alles startete, als die beiden Italien-Spezialisten die legendäre Lage Bertinga von Castello di Ama erwerben konnten. Mittlerweile umfasst das Gut 20 Hektar, und es werden – beim Weingut Istene, bis das eigene Weingut fertig ist – fünf Weine produziert. Es sind bis auf einen Chianti alles IGT. Der aber spielt keine wichtige Rolle und wird auf der Homepage nicht erwähnt. Das Flaggschiff Bertinga ist eine Sangiovese-Merlot-Cuvée, ebenso wie der Zweitwein Sassi Chiusi. Dazu kommen zwei Einzelparzellenweine. Der rebsortenreine Sangiovese Punta di Adine und Volta di Bertinga vom Block Nummer 10 der gleichnamigen Lage. Letzterer ist der Wein, der Bertinga schlagartig bekannt gemacht hat.
In einem Interview mit „Forbes“ hat Verkaufsleiter Luca Vitiello Unzufriedenheit hinsichtlich des Begriffes Supertuscan bekundet. Gleichzeitig hat er eingeräumt, dass es keinen anderen Begriff gäbe, unter dem man sonst die Weine von Bertinga einsortieren könnte. Als toskanischer Merlot steht der Volta natürlich in der Tradition des Masseto, aber auch des L’Apparita von Ama und des Ricolma von San Giusto a Rentennano. Freilich verantwortet kein Geringerer als Stéphane Derenoncourt das Winemaking von Bertinga. Schon anhand der technischen Daten kann man die richtige Richtung erkennen: Fermentation im Edelstahl etwa und eine Lagerung in nur zu 30 Prozent neuer Eiche. Jahrgang 2019 ist jedenfalls nach 2015 und 2016 der dritte des Volta – und es ist ein spektakulärer Wein geworden. In der Nase Pflaume, Veilchen, Bitterschokolade und weißer Pfeffer. Am Gaumen hedonistisch, mit feinsten Tanninen und samtigem Mundgefühl. Aber nicht plüschig, sondern frisch und definiert (97 P.). Ein starkes Plädoyer für Merlot aus Gaiole!
Resümee
Eine starke Performance, ohne Frage. Die hier präsentierten Weine zeigten ein hohes, teilweise sehr hohes Niveau. Die meisten sind lagerfähig und werden an Komplexität noch zulegen. Beeindruckend auch, dass sie den Klimawandel kaum spüren ließen. Sicher wies der Cepparello hohe 15 Prozent Alkohol auf, aber das war am Gaumen nicht zu spüren. Dennoch bleibt die Ausgangsfrage ungelöst. In dieser Runde wird lediglich der Cepparello von seinen Produzenten ausdrücklich als Supertuscan bezeichnet. Das liegt vermutlich an dessen historischem Erbe. Jedenfalls haben 2021 in Florenz 16 Weingüter – Isole e Olena eingeschlossen – die Vereinigung „Comitato Historical Super Tuscans gegründet. Sie soll die einstigen Blockbustern wieder mehr in den Blick rücken und sie auf den internationalen Märkten promoten. Aber es sind alles Weingüter, die bereits vor 1995, also vor der Einführung der IGT Toscana, einen Supertuscan kreiert hatten.
Die jüngeren Produzenten sprechen dagegen öfter einfach von den Super-Premium-IGTs. Das ist zum einen technisch korrekter und beinhaltet zum anderen keine Spitze gegen die großen Chiantis. Die sind mittlerweile natürlich längst ebenfalls veritable „Supertuscans“. Interessant ist allerdings, dass sich zwei der hier präsentierten Weingüter auf Bordeaux als Referenzrahmen beziehen und ihre Spitzenweine ausdrücklich als „Grand Vins“ verstehen. Diese „Château-Strategie“ hatte tatsächlich erstmals Castello Fonterutoli 1997 für seine Chiantis eingeführt. Hier heißt der Zweitwein schlicht Chianti Classico, während die ehemalige Riserva unter dem Namen des Weingutes als „Chianti Classico Castello di Fonterutoli“ abgefüllt wird.
Es bleibt also kompliziert mit den großen Weinen der Toskana. Luca Vitiello von Bertinga machte die interessante Bemerkung: „Wir wollten uns auf den Chianti Classico als Gebiet/Terroir [„territory“] und nicht als [mit Regeln verbundene] Bezeichnung [„appellation“] konzentrieren.“ Die Produktion eines Supertuscans oder Super-Premium-IGPs scheint für viele so etwas wie der Königsweg zu sein, in einem Wein das Optimum aus den vorgegebenen Bedingungen des toskanischen Terroirs zu realisieren. Bezahlt wird das freilich, anders als beim Chianti, mit einem zumindest teilweisen Verlust an kultureller Identität – die freilich selbst alles andere als in Erz gegossen ist. Es ist die Bewährung der aktuellen Weine auf den Märkten von morgen, die entscheiden wird, ob die Bezeichnung „Supertuscan“ eine Zukunft hat.
Bildrechte
Sämtliche Bottle Shots sowie Eingangsphotos: Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images
Luftbild Isola e Olena: Isola e Olena / public domain
Weinberg Castello von Castello di Vicarello aus der Drohne: Castello di Vicarello
Giampaolo Motta und die Weinberge des Gutes: Tenuta La Massa
Weinberg Bertinga: Loredana Catena