Eine Einladung des deutschen Importeurs Véritable, verbunden mit einem Auftrag für „Meiningers Sommelier“, machte es dann möglich, dass ich die Maison dann im Juli 2024 zum ersten Mal besuchen konnte. Kurz vor dem Rummel der eigentlichen Geburtstagsfeierlichkeiten war das ein idealer Zeitpunkt, sich ein konzentriertes Bild von der britischsten aller Maisons zu verschaffen.
Die Geschichte
Der durch familiäre Umstände 1849 zur Gründung eines Champagnerhauses angeregte Pol Roger konzentrierte sich früh auf den Export nach Großbritannien. Aus der Familienhistorie geht hervor, dass Pol Roger bereits seit 1855 bevorzugt trockenen Champagner produziert hatte, weil er wusste, dass die Engländer für diesen eine Vorliebe hegten. So wuchs das Haus rasch, auch nach Pol Rogers Tod im Jahre 1899. Dessen Söhne hatten durch präsidialen Erlass erwirkt, dass der Name des Gründers in der Form Pol-Roger der neue Familienname werden durfte, während die Firma weiterhin Pol Roger heißen sollte. Bald zählten Prominenz und Adel zu den Abnehmern. Ab 1877 wurde die Grande Marque erstmals Hoflieferant der britischen Monarchie, 1908 wurde Winston Churchill Kunde der Maison. Spätestens nach einem Treffen mit Odette Pol Roger in Paris 1945 sollte er keine Gelegenheit mehr versäumen, seine Vorliebe für Pol Roger zu demonstrieren.
Als Familienunternehmen im 20. Jahrhundert geradezu ein Fels der Tradition, konnte sich das Haus der Moderne nicht völlig verschließen. Zur Jahrtausendwende übernahmen erstmals Manager von außerhalb der Familie das operative Geschäft. Dies war verbunden mit erheblichen Investitionen in Keller und Weinberge. Von 2001 bis 2011 wurden die Produktionsanlagen erneuert, in den Folgejahren das im 19. Jahrhundert erbaute Familienhaus in Épernay modernisiert. Gleichzeitig kam 1999 der Ex-Chef de cave von Krug, Dominique Petit. Für ihn war es der Schritt aus der Welt des Eichenholzes in die des Edelstahls. Sein Nachfolger wurde 2018 Damien Cambres. Laurent d’Harcourt ist heute Vorstandsvorsitzender der Maison. Dazu nehmen aus der fünften Generation der Familie Hubert de Billy als Leiter Vertrieb und Öffentlichkeitsarbeit und Véronique Collard de Billy als Leiterin des Aufsichtsrates Führungspositionen wahr. Mit Bastien Collard de Billy als Generalsekretär arbeitet seit 2020 das erste Mitglied der sechsten Generation im Unternehmen.
Das Besondere der Maison
Winston Churchill schätzte wohl den körperreichen, vom Pinot Noir dominierten Stil, der zum Bonmot geführt hat, wonach Pol Roger der Champagner der Gentlemen sei. Einmal ist angemerkt worden, dass das Haus, mit Ausnahme des Besitzes in Cramant, nur über durchschnittlichen Weinbergbesitz verfüge. Tatsächlich hat die Maison erst 1955 eigene Weinberge gekauft und sich auch danach recht spät selbst um deren Bewirtschaftung gekümmert. Heute sind es immerhin 92 Hektar, von denen etwa die Hälfte der Trauben für die durchschnittlich 2 Millionen produzierten Flaschen stammt. Um die Stilistik zu wahren, kauft das Haus nur Trauben aus den Gemeinden (beziehungsweise deren Nachbarorten), in denen Pol Roger auch eigenen Besitz hat. Wenn ein Diorama in der Produktionshalle des Hauses noch aktuell ist, gehören Pol Roger Weinberge in 23 Kommunen. Darunter sind neben Cramant auch die Grand Crus Avize, Ambonnay, Bouzy und Verzy, aber auch ein 3,5 Ha großer Clos in Pierry.
Der eigentliche Schlüssel zur Qualität von Pol Roger liegt aber im 10 Kilometer langen Keller. Dieser ist tiefer und mit 9 Grad Celsius bis zu zwei Grad kälter als die der meisten übrigen Häuser. Das hat Folgen insbesondere für die Milchsäuregärung. Bei niedrigeren Temperaturen verläuft diese länger, was viele für die Finesse und Langlebigkeit der Weine verantwortlich machen. Seit 2011 findet die erste Gärung komplett in Edelstahl statt, die Reserven hält das Haus in Zementtanks. Als letztes der großen Häuser hält Pol Roger am vollständigen Rütteln der Flaschen von Hand (»Remuage«) fest. Vier der zehn letzten Remuageurs der Champagne arbeiten für Pol Roger. Von größerer Bedeutung ist jedoch die Kunst der Assemblage, die von Pol Roger von Generation auf Generation weitergegeben wird. Immer ist die Familie verantwortlich für das finale Blending, und noch immer müssen Vertreter zweier Generationen an der Entscheidung beteiligt sein: Garantie für eine einzigartige stilistische Kontinuität.
Die neue Produktionsstätte
2024 wurde dann eine neue Produktionsstätte eingeweiht, die sich das Haus 50 Millionen Euro hat kosten lassen. Das neue Gebäude war notwendig geworden, nachdem die Champagne 2015 in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen wurde. Bis dahin hatte Pol Roger als letztes Champagnerhaus nicht nur an der Produktion, sondern auch an der Auslieferung seiner Champagner am historischen Standort in der Avenue de Champagne von Épernay festgehalten. Die ist aber mit gut 450.000 Besuchern jährlich eine der Hauptattraktionen der Region und sollte nun vom Schwerverkehr befreit werden. Ohnehin freilich drohte die alte Anlage nach einer Produktionssteigerung von 1,5 auf gut 2 Millionen Flaschen aus allen Nähten zu platzen. Da ein Umzug auf die grüne Wiese für das traditionsreiche Haus nicht in Frage kam, besann es sich auf ein Grundstück im Besitz der Maison nur wenige Schritte entfernt. Das war nach einem Erdrutsch im Jahr 1900 nicht mehr benutzt worden.
2016 erstmals projektiert, begannen vier Jahre später die Bauarbeiten. Wegen des komplizierten Untergrundes wurde zunächst ein neues Fundament mithilfe von 298 bis zu 35 Meter langen Pfählen gelegt, auf das dann eine Bodenfläche von 18.000 m² auf vier Ebenen errichtet wurde, samt neuer Tunnel zu den bestehenden 10 Kilometer Kreidekellern der Maison. Nach der ersten Inbetriebnahme 2023 wurde nun im April das Gebäude eingeweiht. Es enthält die Einrichtungen für Degorgierung, die Ausstattung der Flaschen mit Folienkappe, Manschette und Etikett sowie Verpackung und Auslieferung. Kern der Anlage ist eine modulare, robotergestützte Verpackungsmaschine der deutschen Schubert-Gruppe (hier im Bild). Nach wie vor in Handarbeit werden Großformate und Sonderabfüllungen konfektioniert. Zum 175. Geburtstag, den Pol Roger in diesem Jahr feiert, wurde zudem im Juni eine neu geschaffene Büste von Sir Winston Churchill, dem wohl bekanntesten Liebhaber der Marke, im Innenhof des Hauses vorgestellt.
Das aktuelle Portfolio
Bei meinem Besuch konnte ich das ganze Sortiment verkosten. Brut Réserve, derzeit Basisjahrgang 2019 mit Reserven bis 2015. Schöne Frucht, lebendige Mousse, mit etwas hoher Dosage. Rich Demi-sec mit 45 Gramm Dosage stammt aus anderen Tanks mit höherem Säurelevel. Schön ausbalanciert und stimmig. Pure Extra-Brut ist eigentlich immer ein Brut nature ohne Dosage. Die Weine hierfür haben eine höhere Reife und mehr Frucht und verbringen zusätzliche Zeit auf der Hefe. Ist nach dem Rich schwer zu verkosten und wirkt etwas herb und schlank. Blanc de Blanc 2015 hat sieben Jahre Flaschengärung. Noten von Ingwer und Zitrus, bei wunderbarer Reinheit und guter Länge. Der kraftvolle Brut Vintage 2018 (60 PN | 40 Ch) zeigt eine dezente Cremigkeit und ist für den heißen Jahrgang bemerkenswert frisch. Der markante, weinige Rosé 2018 ist im Prinzip der gleiche Blend wie der Brut Vintage, aber mit einer Assemblage von 15 Prozent Pinot-Noir (Bouzy, Ambonnay, Cumières).
Den abschließenden Winston Churchill 2015 verkostete ich zum vierten Mal. In der Vergangenheit habe ich ihn sehr unterschiedlich bewertet (zwischen 92 und 96 Punkten). Und auch diesmal hinterließ er mich eher ratlos. Vielleicht einfach derzeit im Schneckenhaus. Zum Dinner am Abend in der Maison gab es zunächst die ausgezeichneten Jahrgänge Blanc de Blancs 2008 sowie Vintage Brut 2009. Und dann zwei Weltpremieren, die ersten Cuvées der neuen Vinothèque-Serie von Pol Roger. Sie sind, wie man sagt, „historisch degorgiert“, also zur gleichen Zeit wie die Flaschen aus dem klassischen Release. Aber sie reiften dann in den kühlen Keller von Pol Roger unter bestmöglichen Bedingungen. Wir verkosteten zum einen Vintage Rosé 1999 und sodann Winston Churchill 1999. Ersterer zeigte nicht nur, was für komplexe Essensbegleiter große Rosé-Champagner sein können. Und, dass diese immer noch unterschätzte Kategorie hervorragend reifen kann! Und der majestätisch-strahlende „Winston“, dass er mit 25 Jahre so gerade erst die Volljährlichkeit erreicht hat.
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Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images