Kochkunst vol. 6: Anthimus (511 n. Chr.)

476 nach Christus endet das Römische Reich, und im Chaos der Völkerwanderung wird allmählich das Mittelalter geboren. Die Kochkunst dagegen versinkt in tiefen Schlummer, bis europäische Kreuzfahrer viele Hundert Jahre später den Luxus des Orients entdecken. Diese Geschichte ist viel erzählt worden, aber sie ist eine Legende. Auch in den „dunklen“ Jahrhunderten des Frühmittelalters ging das Wissen um die Kulinarik nicht völlig verloren. Etwa beim griechischen Arzt Anthimus, der bei den Goten in Ravenna Exil sucht und dann für einen fränkischen König einen Kochratgeber verfasst.

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Für das Frühmittelalter ist die Überzeugung immer noch weit verbreitet, dass Arm und Reich im Wesentlichen das Gleiche gegessen hätten und sich die Ernährung der unterschiedlichen Stände vor allem durch die verfügbare Menge unterschieden hätte. Das ist mittlerweile durch zahlreiche archäologische wie textliche Zeugnisse widerlegt. Ganz im Gegenteil dienten ausgesuchte Zutaten und sorgfältige Zubereitung nicht nur der Zurschaustellung eines höheren sozialen Status, sondern auch zur Legitimation von Herrschaft. Um das Jahr 500 bedeutete das selbst für germanische Barbaren das Anknüpfen an die kulinarischen Traditionen Roms.

Ein Gourmet auf Wanderschaft

Tatsächlich ist die Lage zu dieser Zeit verworren. Das römische Reich existiert de facto nur noch als Ostrom/Byzanz mit seiner eigentlich griechischen Hauptstadt Konstantinopel, das aber immer noch Herrschaftsanspruch auf Westrom anmeldet. Regiert wird Italien allerdings vom gotischen Heerführer Theoderich. Der will die Tradition des weströmischen Reiches beerben und in die Rolle eines neuen Augustus treten, was vom oströmischen Kaiser misstrauisch geduldet wird. In die einstigen römischen Provinzen Gallien und Germania dagegen sind noch „wildere“ germanische Stämme eingefallen. Deren bedeutendster, die Franken, haben kurz nachdem sich ihr König aus dem Geschlecht der Merowinger hatte taufen lassen, ein Gebiet unter Kontrolle gebracht, dass vom Main bis zu den Pyrenäen reichte. Nach dessen Tod traten seine vier Söhne sein Erbe an. Der älteste unter ihnen – auch er heißt Theoderich, der Übersichtlichkeit halber taucht er hier in seiner französischen Form Thierry I. auf, beherrscht den Osten des fränkischen Reiches von Metz aus.

Man muss diese komplizierte Vorgeschichte kennen, um zu verstehen, welche politische Bedeutung ein Kochbuch besitzen kann. Anthimus nämlich, dessen Autor, war, nach allem, was wir wissen, ein Arzt aus Konstantinopel – der allerdings nach einem Briefwechsel mit gotischen Politikern über Vorgänge in Byzanz wegen Hochverrats im Jahr 478 des Landes verwiesen wurde. Anthimus kam nach einigen Umwegen nach Ravenna an den Hof von Theoderich, dem König der Ostgoten und Herrscher Italiens. Dort macht er Karriere und wird schließlich Mitglied des Hofrates von Theoderich. Dieser schickte ihn dann als Gesandten zu seinem Großneffen, dem Frankenkönig Thierry I. Anthimus verfasste dann, vermutlich im Anschluss an diese Zeit, einen langen Brief an diesen Thierry über gesunde Ernährung („De observatione ciborum“), in dem zahlreiche Rezepte überliefert sind.

Ein Kochbuch als Ratgeber für die Barbaren

Anthimus ist Grieche, und als Arzt entsprechend vertraut mit der großen medizinisch-diätischen Tradition dieses Kulturraums. Autoren wie Hippokrates und Galen hat er gelesen hat, aber er hat durchaus einen eigenen Standpunkt – und schreibt deutlich populärer. Tatsächlich gab es nach dieser Art von Ratgeberliteratur im gotisch beherrschten Ravenna zu dieser Zeit großen Bedarf. Offensichtlich wollten sich die neuen Herrscher das antike Wissen möglichst unkompliziert aneignen. Davon konnte auch die ungehobelte Verwandtschaft nördlich der Alpen profitieren. Der Brief an Thierry I. ist in diesem Sinn auch pädagogisch gemeint. Anthimus möchte dem Frankenkönig einen Überblick „gemäß den antiken Autoren“ darüber geben, wie die Gesundheit des Menschen grundlegend durch „angemessene Ernährung“ beeinflusst wird.

Immer wieder wird zwischen den Zeilen deutlich, dass Anthimus nicht sonderlich glücklich über die Tischsitten im Norden Europas ist, denn wiederholt betont er Mäßigung (nicht zuletzt beim Alkohol). Kein Wunder, andere Zeitgenossen haben die germanischen Tischsitten mit drastischen Worten geschildert. Isidorus von Sevilla schrieb den Franken „Wildheit der Sitten“ und „eine natürliche Zügellosigkeit der Gemüter“ zu. Sidonius Appollinarius berichtete von den benachbarten Burgundern, dass sich diese ranzige Butter in die Haare schmieren würden. Anthimus ist freilich Diplomat genug, um Zurückhaltung zu wahren – und mehr noch: In seinen Rezepten geht er immer wieder auf regionale Sitten ein und integriert sie, etwa den Gebrauch von Milch und Milchprodukten oder aber Speck, den er als eine fränkische Spezialität bezeichnete („delicias Francorum“).

Imperiale Lebensart

Derartige Kompromisse werden Anthimus nicht leichtgefallen sein. Denn er ist nicht nur Mediziner, sondern auch kultivierter Feinschmecker, ein „Arzt-Gourmet“, wie Carl Deroux ihn genannt hat. Die Vermittlung kulinarischer Lebensart ist denn auch neben der medizinischen Aufklärung der zweite Hauptzweck des Briefes – was freilich alles andere als Privatsache ist. Denn Anthimus lehrt den Barbaren Thierry I. bewusst „Romanitas“, indem er an die Bankette des römischen Senats erinnert. Wobei es dabei nicht der Ironie entbehrt, dass Anthimus Rom vermutlich nie gesehen hat und Latein lediglich mündlich beherrscht und sein Brief in ziemlich fehlerhaftem „Vulgärlatein“ verfasst ist. Auch den römischen Kochbuchklassiker „Apicius“, das legen einige Zitate nahe, kennt er zwar zumindest vom Inhalt her, aber er steht nicht in dessen Tradition. So unterscheidet er sich von ihm deutlich durch sein Verbot, das in der römischen Küche omnipräsente Garum, eine fermentierte Fischsauce, zu benutzen. Das war immerhin noch bei Karl dem Großen Brauch.

Wichtiger als die Vermittlung authentisch römischer Küche war, dem königlichen „Newcomer“ Thierry dabei zu helfen, mittels kulinarischem Upgrade seinen Herrschaftsstatus zu legitimieren. So wie im imperialen Speisesaal von Theoderich in Ravenna ein Mosaik hing, das die Gäste aufforderte, die Früchte aller Jahreszeiten und von überall her aus der Welt zu genießen. Ganz im Sinne von Theoderichs Berater Cassiodor, nach dem „ein Privatmann nur die Produkte aus seiner Region essen solle, es aber zum Ruhm des Königs gehöre, auf seinem Tisch alle Spezialitäten von überall her zu versammeln.“ Wenn Theoderich seinem Großneffen Thierry am Rande des zerfallenen römischen Reiches den Gesandten Anthimus schickte, dann war dies aus seiner Sicht vor allem als politische Geste gedacht: Um aus einem Barbarenhäuptling einen römischen Fürsten zu machen. Man hat das Anthimus’ Werk als letztes römisches Kochbuch bezeichnet. Aber auch als erstes französisches oder auch als ältestes europäisches Kochbuch des Mittelalters. Doch je nach Perspektive ist es all dies zugleich. Die fränkische Aristokratie freilich war damit wohl etwas überfordert, denn der Brief hatte keine überlieferte Wirkung. Stattdessen wanderte er in die Bibliotheken der Klöster, wo die Kulinarik nun für viele Jahrhunderte ein Exil finden sollte.

Der Teller: Afrutum

In den Rezepten des Briefes – die keine Mengenangaben kennen und lapidar formuliert sind –verschmelzen eine Menge Einflüsse, interessanterweise allerdings nur wenige Traditionen aus der gotischen Küche. Dafür gibt es Vorformen von Marzipan und Hummus sowie ein Verweis auf die byzantinische Küche: „Afrutum“ aus Eischnee, also geschlagenem Eiweiß, das die antike römische Küche nicht kannte. Als eine Vorform von Œufs à la neige wirkt es auch durch die Dampfgarung sehr modern. Eine schöne Kochanleitung gibt es hier.

Bei Anthimus lautet das Rezept so: „Was im Griechischen afrutum und im Lateinischen spumeum genannt wird, wird aus Hühnerfleisch und Eiweiß hergestellt. Es muss viel Eiweiß verwendet werden, damit das Afrutum schaumig wird. Es wird in einer flachen Kasserolle zu einem Hügel aufgeschichtet und mit einer zuvor zubereiteten Soße und verdünnter Fischsauce bedeckt. Dann wird die Kasserolle über die Holzkohle gestellt und das Afrutum im Dampf der Sauce gegart. Die Kasserolle wird dann in die Mitte einer Servierplatte gestellt und mit etwas Wein und Honig übergossen. Er wird mit einem Löffel oder einer kleinen Kelle gegessen. Ich füge zu diesem Rezept oft guten Fisch oder sogar Jakobsmuscheln hinzu, denn sie sind sehr schmackhaft und in meiner Gegend besonders reichlich vorhanden. Aus sauberen Jakobsmuscheln werden ‚Schneebälle‘ gemacht.“

Bildlegenden und Copyrights

Beitragsbild: Mosaik der Heiligen Drei Könige aus Sant’Apollinare Nuovo in Ravenna vom Ende des 5./Anfang des 6. Jahrhunderts. © Username.Ruge on Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0

Mausoleum des Theoderich: © Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images

Nachbildung einer merowingischen Villa, nach Charles Garnier. In: Charles Garnier und A. Ammann: L’Habitation humaine. Paris 1892.

Erste Seite des Anthimus-Briefes im Anhang (72r−75v) des Lorscher Arzneibuchs (8. Jhd.) aus der Staatsbibliothek Bamberg (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc.Med.1, Bl. 72r, urn:nbn:de:v2_bsb00140785_00149). Der Anfangssatz lautet: „Incipit Epistula Antimi Viri Inlustri Ad Theudoricum Regem Franchorum“, das heißt: „Hier beginnt der Brief des erlauchten Anthimus an Theudoricus, den König der Franken“.

Bild einer Bäckerei auf einem gallo-römischen Grabstein. Metz, Musée des Beaux Art. © @josetteking auf josetteking.com

Mosaik eines Symposiums aus dem östlichen Mittelmeerraum (Levante) um 450 n. Chr. oder später. Musée de la vigne et du vin im Château de Boudry. Wikimedia Commons / Public domain; Anonymus: https://parenthetically.blogspot.com/2012/08/unswept-and-unwelcome.html . Detaillierte Informationen über Bildinhalt und Kontext: https://chateaudeboudry.ch/le-musee/les-collections/pieces-principales/

Mosaikinschrift aus dem Triklinium (Speisesaal) des sogenannten Palastes des Theoderich in Ravenna: „SVME QVOD AVTVMNVS QVOD | VER QVOD BRVMA QVOD ESTAS | ALTERNIS REPARANT ET | TOTO CREANTUR IN ORBE“. „Ich bin derjenige, durch den Herbst, Frühling, Winter und Sommer abwechselnd auferstehen und alles auf der Erde hervorgebracht wird.“ Abbildung aus: Gherardo Ghirardini: Gli scavi del Palazzo di Teodorico a Ravenna. In: Monumenti antichi 24 (1916), S. 737−836, S. 795.

Teller mit Afrutum: © Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images

Literatur

Bonnie Effros: Creating Community with Food and Drink in Merovingian Gaul. New York und Houndmills/Basingstoke 2002.

Jim Chevallier: How to Cook an Early French Peacock. De Observatione Ciborum: Roman Food for a Frankish King. 3. erw. Auflage o. O. 2020. [Zweisprachige und kommentierte engl./lat. Textausgabe]

Carl Deroux: Anthime, un médecin gourmet du début des temps mérovingiens. In : Revue belge de Philologie et d’Histoire Année. 80, Heft 4 (2002), S. 1107−1124.

Yitzhak Hen: Food and Drink in Merovingian Gaul. In: Brigitte Kasten (Hrsg.): Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft (bis ca. 1000). Köln 2006), S. 99−110.

Mark J. Johnson: Towards a History of Theoderic’s Building Program. In: Dumbarton Oaks. Papers 42 (1988), S. 73–96.

Karl Schneider: Ein Kochbuch für das Frankenland aus dem 6. Jahrhundert. In: Schweizer Schule 40 (1953), S. 709−713. [Beschreibende Inhaltsangabe, online hier]

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