Geschichte Teil 1: Die Familienhistorie
Über ein Viertel Jahrtausend Geschichte, das können nicht viele Maisons von sich behaupten. Wer sich nur ein wenig mit der Vergangenheit der Champagne beschäftigt, findet in der Historie des Hauses Abelé einen faszinierenden Stoff. Sechs Generationen wird das Haus in Familienbesitz sein, bevor es dann im 20. Jahrhundert in wechselnden Firmenbesitz gerät – und jede dieser Stationen hat seine ganz eigene Geschichte. Die Maison wird zunächst 1757 unter dem Namen ihres Gründers Théodore Vander Veken eingetragen, seit 1750 Weinhändler in Reims. Tatsächlich war er in Lille geboren, wohin sein Vater, der aus einer Familie von Färbern aus dem damals zu Westfalen gehörenden Lüttich stammte, ausgewandert war. Nach Théodores Tod 1799 übernimmt Sohn Rémi, der kinderlos bleibt, sodass ihm 1828 sein Neffe nachfolgt. Der trägt einen berühmten Namen: Auguste Ruinart de Brimont. Denn Rémis Schwester Françoise hatte Nicolas Ruinart geheiratet, den Enkel des gleichnamigen Gründers von Champagne Ruinart.
1834 trat dann sein Schwager, der Ehemann von Augustes Schwester Elisabeth Ruinart, in das Unternehmen ein. Der aus Marktoffingen stammende Antoine de Muller hatte bei der Witwe Clicquot als Kellermeister gearbeitet und 1813 das Rüttelpult miterfunden. 1842 übernimmt er die Leitung und benennt das Haus in de Muller-Ruinart um. Tochter Lucie heiratet ihren Cousin François Abelé, den Sohn ihrer Tante Marie de Muller und Charles d’Abelé, einem französischen Emigranten, den es nach Württemberg verschlagen hatte. Nach einigen Jahren an der Seite seines Schwiegervaters gründet François Abelé 1842 das in Épernay, dann im Château de Ludes ansässige Haus Abelé de Muller. Nach seinem Tod 1876 übernimmt Sohn Henri, der das Unternehmen 1880 nach Reims bringt, mit de Muller-Ruinart vereint und der Maison 1903 seinen Namen gibt. 44 Jahre führt Henri das Haus, 1920 übernehmen seine Söhne Louis und Joseph. Infolge von Wirtschaftskrise und Kriegsbeginn müssen diese schließlich 1942 das Familienunternehmen verkaufen.
Geschichte Teil 2: Die moderne Ära
Neuer Eigentümer ist die Großkellerei Compagnie Française des Grands Vins, zu deren Gründern 1909 ausgerechnet Eugène Charmat gehört, der Erfinder des nach ihm benannten Tankgärverfahrens für Schaumwein. Das Unternehmen verlegt den Firmensitz in die Rue de Sillery 50 nach Reims, kümmert sich ansonsten aber wenig um das historische Haus. 1985 übernimmt dann der katalanische Cava-Gigant Freixenet das Haus, was in Frankreich für einige Schlagzeilen sorgte. Tatsächlich hatte das Haus Abelé einmal an der Wiege der spanischen Cava-Produktion gestanden. Hatten doch Henri Abelé und sein Cousin José de Muller (der in Tarragona die Bodegas de Muller leitete) 1886 Manuel Raventós Domènech, Gründer des Pionierbetriebs Cornoníu, in die Kunst der Champagnerherstellung eingewiesen. Zunächst wird unter Freixenet lediglich an der Stilistik gefeilt (mehr Frische, höherer Chardonnay-Anteil). Dann aber wird auch investiert: 2007 eröffnet ein neuer Keller eröffnet und mit Frank Niçaise hat das Haus einen echten Kellermeister.
2018 wird Freixenet selber geschluckt, vom deutschen Sektriesen Henkell aus Wiesbaden. Die besaßen freilich bereits mit Alfred Gratien in Épernay ein Champagnerhaus. Eine kurze Zeitlang laufen die Häuser nebeneinander unter der Regie von Nicolas Jaeger, dem Chef de cave von Alfred Gratien. Doch im Juli 2019 wird publik: Das Centre Vinicole – Champagne Nicolas Feuillatte (CV-CNV) kauft Champagne Henri Abelé. Damit wanderte eine der ältesten Maisons der Champagne in die Arme eines Verbundes von Champagner-Genossenschaften. Nachdem CV-CNV 2021 mit dem Konkurrenten CRVC-Champagne de Castelnau verschmolz, gehört Abelé 1757, wie es seit diesem Jahr hieß, zum neu gebildeten Konglomerat Terroir & Vignerons de Champagne (TEVC). Geleitet wird das Haus nun von Marie Gicquel, Kellermeister ist Etienne Eteneau. Die Produktion ist zuletzt auf 200.000 Flaschen gesunken. Das angepeilte Verkaufspotential von 400.000 Flaschen soll aber bald wieder erreicht werden.
Stilistik
Der Maison gehören keine Weinberge, stattdessen kommen die Trauben zumeist von Winzern mit langfristigen Lieferverträgen. In Tyson Steltzers „Champagne Guide“ von 2020/21 heißt es, die Trauben stammen vor allem „von der Marne, Sézanne, Vitry und der Aube“. Das Haus selbst verweist auf den hohen Anteil von Chardonnay von der Côte des Blancs sowie den Pinot Noir aus der Grand-Cru-Gemeinde Verzy in der Montage de Reims sowie der Gemeinde Les Riceys in der Aube. Seit dem neuen Keller von 2007 können jedenfalls kleine Partien separat ausgebaut werden. Im Übrigen arbeitet das Haus klassisch mit Edelstahl und malolaktischer Gärung. Welchen Weg das neue Team einschlagen wird, kann man beim Champagner immer erst nach einigen Jahren sehen. Marie Gicquel hat jedenfalls in einem Interview versichert, dass der neue Eigentümer zwar neuen Schwung bringe, das Haus aber „autonom“ bleiben wird. „Mit seinen eigenen Lieferanten, seinen eigenen Kellern, seiner Cuverie und seinen Vertriebswegen“.
Portfolio
Für einen Négociant ist Abelé ein kleines Haus, sozusagen eine „Maison ‚boutique‘“. Entsprechend ist das Angebot mit sechs Champagnern ziemlich schlank und bis auf eine Ausnahme recht konventionell. Den Beginn macht ein klassischer Brut (40% Chardonnay, 35% Pinot noir, 25% Meunier), der mindestens drei Jahre gereift ist und zwischen 15 und 20 Prozent Reserveweine enthält. Sein Gegenstück, der Rosé, besteht aus 30 Prozent Chardonnay, 40 Prozent Pinot Noir und 30 Prozent Meunier. Dazu kommen per Assemblage 10 Prozent Pinot Noir aus Les Riceys. Der Blanc de Blancs stammt zu 100 Prozent aus Chardonnay-Trauben, enthält 20 Prozent Reserveweine und reift mindestens drei Jahre. Von den beiden früheren Vintage-Champagnern bei Abelé ist die 1988 eingeführte Cuvée Soirées Parisiennes 2006 zum letzten Mal produziert worden. Auch einen Blanc de Blancs Millésime (zuletzt 2002) gibt es nicht mehr.
Aushängeschild von Champagne Henri Abelé von Beginn des 20. Jahrhunderts bis ins Jahr 1980 war der Jahrgangschampagner Imperial Club. Nachdem Freixenet das Haus 1985 übernahm, löste ihn seit diesem Jahr ein namenloser Millésime ab. Der ist gegenüber dem jahrgangslosen Segment deutlich ambitionierter. Der 2014er-Jahrgang (60% Chardonnay, 40% Pinot Noir) etwa lag sieben Jahre auf der Hefe.
1986 wurde dann die erste Prestige Cuvée von Abelé gefüllt: „Le Sourire de Reims“. Im gleichen Verhältnis komponiert wie der Vintage reift er mindestens zehn Jahre im Keller. Die Cuvée spielt auf den großen Einsatz von Henri Abelé beim Wiederaufbau der Kathedrale von Reims nach dem Ersten Weltkrieg an. Dessen Champagner erhielten als einzige die Erlaubnis, das berühmte Gesicht des „lächelnden Engels“ an dessen Fassade für sein Champagnerhaus zu nutzen. 1936 hatte Abelé „Le Sourire de Reims“ als Marke eingetragen. Einen Rosé gibt es ab Jahrgang 1996. Er ist ein Rosé de Noirs und besteht zu 100 Prozent aus Pinot-Noir-Trauben aus Les Riceys, die 72 Stunden mazerierten.
Verkostung
Die beiden Einstiegschampagner spiegeln in ihrer puren, geradlinigen Art ihr äußeres Design − Ergebnis des Relaunches von 2021, das sich um ein die Kellergewölbe symbolisierendes Logo zentriert. Der Brut [Basis 2018 mit Reserven bis 2015; deg.:10.06.2022] ist sauber und gut strukturiert, mit einer angenehm kühlen Frucht und nur verhaltener Dosage – was für das ganze Sortiment gilt. Marie Gicquel hat in einem Interview verraten, dass Freixenet „die Süße des Champagners liebte“ und man dann die Dosage neu dosiert habe. Das ist genau so geglückt wie die stärkere Betonung des Chardonnays. Nur die Mousse ist vielleicht noch eine Spur rustikal und könnte eleganter sein (88 P.). Der Rosé [Basis 2015; deg.:30.11.2021] setzt diese Linie fort, mit einem feinen Bouquet von Birnen und Erdbeeren, mit guter Säure und unsentimentalem Finish (89 P.).
Der Blanc de Blancs [Basis 2018; deg.:05.04.2022] dagegen wirkt eigentümlich undefiniert. Eine verhaltene Nase, in dem die Aromen von frisch gebackenem Weißbrot dominieren, dazu etwas Grapefruit. Am Gaumen sehr weinig, mit weicher Säure und etwas breit. (87 P.) Der Chardonnay scheint unter dem heißen Basisjahrgang 2018 am meisten gelitten zu haben. Jedenfalls gewannen alle drei Non-Vintages deutlich nach einem Tag in der angebrochenen Flasche im Kühlschrank. Selbst der Blanc de Blancs wirkte fokussierter. Dennoch ist der Vintage aus dem kühlen „atlantischen“ Sommer von 2014 [deg.:05.04.2022] dann ein mächtiger Qualitätssprung nach vorne. Im Bouquet Aprikose und Zitrus, dazu schöne Briochenoten und Mandeln. Sehr fein und klar am Gaumen, zugleich schlank und frisch, aber auch vielschichtig und von Autolysenoten geprägt. Die Säure ist fast elektrisierend, mit einem schönen Kick Fruchtsüße am Ende. (93 P.)
Der Sourire de Reims 2009 [deg.:07.04.2022] liefert dann, was man erwarten darf: Opulenz und eine fast luxuriöse Textur, mit Noten von reifen Äpfeln, Mirabellen, Pfirsich und Konditorcreme. Das alleine wäre aber nur die halbe Freude. Denn zugleich ist die Wucht des 2009er-Jahrgangs schön ausbalanciert worden, sodass trotz Druck und Cremigkeit die Frische nicht fehlt (94 P.). Le Sourire de Reims Rosé stammt dagegen spürbar aus dem muskulös-sehnigen Jahr 2008 [deg.:07.04.2022]. Wie viele seiner besten Vertreter wird er ein Langstreckenläufer sein. Was nicht heißt, dass der Champagner nicht schon jetzt ausgemachte Freude bereitet. In der Farbe tiefes lachs- bis kupferrot. In der Nase und am Gaumen très Pinot: Erdbeeren, Sauerkirsche, Hibiskus und Gewürze wie Piment. Im Mundgefühl mit noch sehr frischer Säure, weinig, komplex und mit deutlicher Phenolik – was ihn zum wunderbaren Essensbegleiter macht. Sehr eigenständiger Rosé, dessen Entwicklung man gerne noch Jahrzehnte nachverfolgen würde (95 P.).
Post Scriptum
Die Geschichte des Hauses Abelé ist außerordentlich kompliziert. Nicht nur wegen der Familien-Genealogie, sondern auch wegen der Unternehmensgeschichte. So wurde etwa der Name „de Muller-Ruinart. Successeur de Van der Veken père et fils“ häufig verkürzt als „Muller-VanderVeken“. Sodann firmierte die 1903 aus der Fusion der beiden Familienunternehmen entstandene Maison „Abelé − Vander Veken − Henri Abelé, fils et arrière-petits-fils, successeur“ schon bald nur noch als „Henri Abelé“. Der Name ist allerdings bereits früher im Gebrauch. Auch die Darstellung hier ist recht verkürzt und hoffentlich ohne Fehler. Die Maison stand die letzten Jahrzehnte eher im Schatten der großen Maisons stand und die Quellen sind ziemlich zerstreut. Daher sollen an dieser Stelle noch ein paar Bilder wiedergegeben werden und Links zu weiterführender Literatur gegeben werden.
Porträts von links nach rechts: Nicolas Ruinart-Vanderweken (1765–1850), Antoine de Muller-Ruinart (1788–1953). Henri Abelé (1852–1923). Der hatte übrigens das 1884 patentierte Degorgier-Verfahren „en glace“ als Erster verwendet. Unten links: altes Etikett von Henri Abelé nach 1903. Unten rechts: Anzeige aus: Revue des vins et liqueurs 1937. Die Genealogie der Häuser Van der Veken, de Muller, Ruinart und Abelé kann man am besten der Schrift „Una carta de Luis de Muller Ruinart de Brimont a su tía Josephine von Muller Schaden“ von Borja de Querol de Quadras entnehmen, auch wenn diese selbst nicht fehlerfrei ist. Zur Geschichte von François Abelé in Ludes, der auch der Eigentümer von Château Pekin in Épernay war, hat sein Nachfahre Edouard Abelé (1921−2015) den Artikel „Vie et mort d’un château“ veröffentlicht.
Bildrechte
Alle Flaschenfotos sowie Korken: Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images
Porträt Théodore Vander Veken: Cliché Gérondal©Palais des Beaux-Arts de Lille
Etikett: gemeinfrei
Firmensitz: Union des maisons de Champagne
Kreidekeller: Champagne Abelé 1757
Historische Dokumente im Post Scriptum: o.l. und o.m.: C.[amille] Moreau-Bérillon: Au Pays de Champagne. Le vignoble – le vin. Reims 1925. [Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France]. O.r.: Alte Champagnerkapsel Champagne Henri Abelé: gemeinfrei. U.l.: Broschüre Champagne Henri Abelé. Viellei et noble maison de Champagne. Reims 1911. U.r.: Revue des vins et liqueurs et des produits alimentaires pour l’exportation. Paris, Dezember 1937. [Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France].