Champagne 2023: Ein Rückblick in zehn Kapiteln

Die letzten Jahre haben die Weinwelt verändert. Was davon lediglich kurzzeitiger Trend und was grundlegende Umwälzung ist, ist noch offen. Beispiel Champagner: Die Bedeutung des französischen Luxusschaumweins im Handel hat zuletzt enorm zugenommen. In Deutschland etwa hat der Champagner-Umsatz in 2022 den sämtlicher französischer Stillwein-AOPs zusammengenommen übertroffen. Hat sich die Erfolgsgeschichte 2023 fortgesetzt?

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In der multiplen Krisensituation von 2023 – Stichworte Ukraine, Israel, Inflation – hielt sich der Champagner wacker. Zumal der Konsument anderen Weinsorten wie dem Rotwein zunehmend die kalte Schulter zeigt. Hier die zehn Themen, die den Sektor letztes Jahr beschäftigt haben.

1. Die Zahlen: Zurück in die Normalität

Das Jahr begann rosarot, denn die Zahlen von 2022 sind erste Sahne. Weltweit waren die Champagner-Umsätze um 10,9 Prozent auf 6,3 Milliarden Euro gestiegen − ein Allzeit-Hoch. Insgesamt wurden 325,5 Millionen Flaschen weltweit verkauft. Ein kleines Plus von 1,2 Prozent zum Vorjahr, wenn auch noch etwas vom 2007er-Rekord mit 338,7 Millionen Flaschen entfernt. Während der heimische Markt stabil war, war der eigentliche Wachstumstreiber der Export mit einem Umsatzplus von 15,1 Prozent und einem um 4,1 Prozent gestiegenen Absatz. 2023 kühlte sich dann deutlich ab. Die teilweise erheblichen Preiserhöhungen konnten sich vielfach nicht durchsetzen, der Export verlor an Schwung und der französische Supermarktverkauf brach ein. Anfang Januar meldete dann Champagne Viticole auf Grundlage der Verkaufszahlen von Dezember 2022 bis November 2023 den ernüchternden Befund, dass die Champagne „auf dem Weg zur Rückkehr zu zehnjährigen Normalwerten“ sei. Tatsächlich fiel das Volumen, bei konstantem Umsatz, auf 299 Millionen Flaschen.

2. Die Ernte: Die Tanks füllen sich wieder

Frost, Hagel, Falscher Mehltau und die Kirschessigfliege. Die Natur hatte der Champagne in den letzten Jahren mehrmals die Zähne gezeigt und seit 2012 (mit Ausnahme von 2018) nur unterdurchschnittliche Erntemengen hervorgebracht. Der dramatische Tiefpunkt von 2021 erfüllte dann die ganze Region mit Schrecken und erzeugte das Gespenst mangelnder Lieferfähigkeit. 2022 gab es dann nach einer Rekordernte überall nur strahlende Gesichter. 2023 setzte sich dann das Lächeln der Winzer trotz partiellem Schädlingsdruck etwa wegen Boytritis fort. Mit minus zwei Prozent zum Vorjahr war die Lese zwar im Ergebnis etwas niedriger ausgefallen. Gegenüber dem 5-Jahre-Durchschnitt lag 2023 aber um 24 Prozent im Plus. Die Zuckerwerte seien eher „klassisch“ niedrig wie in den 1980er- und 1990er Jahren, die Aromatik aber sei frisch und ausdrucksstark. Gelobt wird allgemein besonders die Qualität des Chardonnays. Rekorde gab es bei den Traubengewichten mit durchschnittlich über 220 Gramm, manche „Kolosse“ schafften es gar in die Lokalpresse.

3. Die Besitzerwechsel: Ein großer und ein kleiner Paukenschlag

Im März hatte Terroirs & Vignerons de Champagne (TEVC) mit der Holding Artémis Domaines eine Vereinbarung über Verhandlungen zum Verkauf von Champagne Henriot unterzeichnet und diese dann im Oktober abgeschlossen. Ein Schritt, der völlig überraschend gekommen war und der an die Firmen-Übernahmeschlachten in der Champagne in den Neunzigerjahren erinnerte. Die Artemis-Gruppe der Milliardärsfamilie Pinault, zu der der Luxusgüterkonzern Kering, das Auktionshaus Christies՚s, aber auch Weingüter wie Château Latour gehören, hatte Henriot erst am 30. September 2022 erworben. Im Januar 2023 war dann auch der Kauf von Champagne Jacquesson durch Artemis gemeldet worden. Offensichtlich war man intern zum Ergebnis gelangt, Jacquesson den Vorzug zu geben. TEVC seinerseits ist die größte Vereinigung von Genossenschaftskellereien in der Champagne und war Ende 2021 aus der Fusion zwischen dem Centre Vinicole Nicolas Feuillate (CV-NF) und der Coopérative Régionale des Vins de Champagne (CRVC) entstanden. 2019 hatte CV-NF Champagne bereits Champagne Henri Abelé von Freixenet übernommen.

Einen Monat später wurde gemeldet, dass Antoine und Anne Malassagne, die Urenkel des Gründers von AR Lenoble, Armand-Raphaël Graser, die Mehrheitsanteile ihres Unternehmens an die belgische Investmentfirma FG Bros verkaufen. Das in Damery ansässige Haus AR Lenoble hatte im Jahr 2020 sein 100-jähriges Bestehen gefeiert und sich in den letzten Jahren unter den führenden Champagnerproduzenten der Region etabliert. FG Bros wird von den Familien Frère-Gallienne kontrolliert, die im Besitz mehrerer Kapitalgesellschaften sind. Neben einem Anteil von 6,8 Prozent am Getränkekonzern Pernod Ricard halten sie die Hälfte der Anteile an Château Cheval Blanc in Saint-Émilion. Erst im Februar hatte FG Bros durch den Kauf der Agentur Mazarine, Veranstalter vieler Pariser Haute-Couture-Schauen, für Aufmerksamkeit gesorgt. Lenoble ist nicht die erste Investition der Familie in der Champagne. Der 2018 verstorbene Multi-Milliardär Albert Frère hatte um das Jahr 2000 Champagne Taittinger übernommen, kurze Zeit später aber an die US-Investmentfirma Starwood Capital weiterverkauft.

4. Die Macher: Die Champagne wird weiblicher

Es ist seit einigen Jahren eine erfreuliche Tendenz. Zunehmend werden die Champagner auch großer Maisons von einer „Cheffe de cave“ verantwortet. Nach Séverine Frereson bei Perrier-Jouët (2020), Julie Cavil bei Krug (2021) und Alice Tétienne bei Henriot (2022) – um nur die bekanntesten zu nennen – hat nun auch Champagne Charles Heidsieck einen weiblichen Kellermeister. Elise Losfelt (im Bild links) ist Agraringenieurin und hatte zuletzt zehn Jahre lang verschiedene Positionen in der Weinkommunikation und als Leiterin der Weinbereitung bei Moët & Chandon in der Champagne inne. Sie löste überraschend den zweimal als „Best Sparkling Winemaker of the Year“ ausgezeichneten Cyril Brun (rechts) ab. Den hatte es pikanterweise zum Schaumwein-Produzenten Ferrari ins norditalienischen Trento gezogen. Damit wechselte zum ersten Mal ein Chef de cave aus der Champagne als Vollzeit-Önologe zu einem italienischen Weingut. Auch Champagne Gosset hat mit Gabrielle Malagu seit 2023 eine „Cheffe de cave“, allerdings gemeinsam mit Odilon de Varine.

5. Die Stilistik: Wird die Champagne burgundischer?

2023 gab es viele spannende neue Cuvées. Doch wenn mancher auch vor dieser „Neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) kapitulieren möchte, lassen sich auch ein paar rote Fäden ausmachen. Die wichtigste Entwicklung ist wohl das Ende der klassischen „Brut sans année“ – also des jahrgangslosen Einstiegs – und deren Transformation in eine numerisch markierte Cuvée bei einigen der großen Häuser. Von Jacquesson erfunden, von Krug aufgenommen und von Roederer erstmals im großen Maßstab praktiziert, folgte Lanson 2023 mit seiner Création Black. Die Grundidee: dem Konsumenten zu signalisieren, dass eine Cuvée in jedem Jahrgang verschieden ausfällt. Oder anders gesagt: die Winzerphilosophie des Produzenten zu unterstreichen. Wenn man so will, ist das die Antwort der Grandes Marques auf die Herausforderung der Winzer. Damit werden zunehmen Differenzen aufgehoben, die seit einigen Jahrzehnten das Selbstverständnis und die Produktpalette der Region prägen.

Charles-Armand de Belenet, CEO von Champagne Bollinger sprach nun in einem viel beachteten Interview mit Drinks Business von der „Burgundisierung“ der Region. Was bedeutet, dass die Region ihren Fokus immer mehr auf das Terroir, und das heißt in der Konsequenz Einzellagen- und Stillweine, verlagern würde. Auch Jean-Baptiste Lécaillon, Chef de cave der Maison Roederer und gleichzeitig deren Executive Vice President, ist der Überzeugung: „Die neue Champagne wird durch das Terroir bestimmt.“ Entscheidender als der Burgund-Bezug ist für ihn der Rückgriff auf die Methoden der Vierzigerjahre. Weniger Edelstahl, mehr Holz, reiferes Lesegut, geringere Erntemengen, mehr Konzentration, mehr Länge. „Wir kommen zurück zur DNA der Champagne“. Michel Drappier, Altmeister im „wilden Süden“ der Champagne, setzt dagegen ganz auf die Zukunft. Er kündigte im Mai an, als Erster eine Cuvée mit den mittlerweile acht erlaubten Rebsorten der Champagner auszubauen. Also inklusive der gegen die Auswirkungen der Klimakrise gezüchtete Hybridrebe Voltis (im Bild rechts).

6. Die Betrüger: Fälscher, Diebe und Ausbeuter

Ganovenstücke wie der Raub von Champagner im Wert von gut 600.000 Euro und die anschließende Verfolgungsjagd zwischen Polizei und Ganoven auf der Autobahn zwischen Reims und Paris im November gehören zum Mythos des französischen Luxussprudels. Leider agieren im Schatten der Branche noch ganz andere Betrüger. So wurde das Champagnerhaus Didier Chopin im August der illegalen Herstellung von knapp zwei Millionen Flaschen Champagner beschuldigt. Der Vorwurf: Der gleichnamige Chef und Gründer soll Weine aus der Ardèche und Spanien importiert und mit CO2 und Dosage versetzt haben. Die so entstandenen Schaumweine wurden als Champagner in den Handel gebracht – bis hin zur Supermarktkette Leclerc. Im Dezember warf der Fernsehsender Arte in einer Reportage Licht auf einen Betrug ganz anderer Art, nämlich die Ausbeutung von Erntehelfern. Einzelfälle, aber doch ein strukturelles Problem, weil die Betriebe Verantwortung an Zeitarbeitsfirmen abtreten, die von den lokalen Behörden kaum kontrolliert würden. Nun hat die Branche eine rasche Charta für die Regulierung von Dienstleistern angekündigt.

7. Die Promotion: Die neue Rolle der Promis

Die Verbindung von Champagner und Prominenz ist so alt wie das Getränk selbst. Seit Kurzem aber beschränken sich Sportler und Popstars nicht länger darauf, Werbeträger oder Markenbotschafter zu sein. So schloss das Unternehmen Sire Champagne des US-amerikanischen Rappers 50 Cent im Juli mit Terroirs et Vignerons de Champagne einen langfristigen Liefervertrag ab. Damit sicherte es sich die Versorgung seiner führenden Marke Le Chemin du Roi. Diese ist im Profisport der USA der offizielle Champagner von mindestens sieben Profiteams. Champagne Pommery hat 2023 zwei Cuvées in Zusammenarbeit mit dem japanischen Rockstar Yoshiki vorgestellt. Diese „kreativen Partnerschaften“ mit Künstlern sind bei französische Champagnermarken nicht zuletzt deshalb beliebt, weil das französische „Loi Évin“ für Alkoholwerbung strenge Auflagen vorsieht. Die Kommunikation über das gemeinsame Produkt ist dann eine über Kunst − und keine über Alkohol. Ein schmaler Grad – weshalb etwa Lady Gaga und Dom Pérignon im Mai von der Suchtpräventionsorganisation Addictions France verklagt worden sind.

8. Die Ausstattung: Zwischen Tradition und Moderne

Gewicht, Material, Verpackung: Die Ausstattung der Champagner-Flasche gerät im Zeichen der Klimakrise zunehmend in die Kritik. Um den CO2-Fußabdruck zu vermindern, hat etwa Champagne Telmont, Teil der Rémy Cointreau-Gruppe, 2023 gemeinsam mit dem Glashersteller Verallia die weltweit leichteste Champagner-Flasche getestet. Diese ist nun 800 Gramm schwer und damit 35 Gramm leichter als die sonst am Markt verfügbaren Flaschen. Besonders in der Diskussion: die Kapsel. Die EU hatte am 8. August eine Verordnung erlassen, die es Schaumweinproduzenten freistellt, ihre Flaschen mit Folienkapseln auszustatten. Doch der Branchenverband Comité Champagne hat sich dafür entschieden, dass zur Champagnerflasche auch in Zukunft obligatorisch die Kapsel gehört, weil sie ein „Identitätscode“ des Champagners sei. Dies soll nun im Pflichtenheft der Appellation festgeschrieben werden. Um die Umweltbilanz des umstrittenen Packaging-Accessoires zu verbessern, hat die Champagne vor einem Jahr beschlossen, die Umstellung von Aluminium- auf Papierkapseln einzuläuten.

9. Die Zukunft: Der 10-Jahresplan des CIVC

„Immer verfügbar, immer begehrenswert und immer vorbildlich“. Unter dieser Prämisse steht die Roadmap für die nächsten zehn Jahre, die das Comité Champagne im Februar vorgestellt hat. Sie soll die Region auch dabei unterstützen, die beiden ehrgeizigen Kernpunkte des Branchenverbandes zu realisieren. So strebt der Weinsektor der Champagne zum einen an, bis zum Jahr 2030 100 Prozent seiner bewirtschafteten Flächen als nachhaltige Weinberge zu zertifizieren. Zum anderen verfolgt er ein ehrgeiziges Dekarbonisierungsziel, das 2022 noch einmal verschärft wurde, indem die Region nun bis 2050 einen kohlenstoffneutralen Status anstrebt. Um das alles zu erreichen hat das Comité Champagne sein Jahresbudget um 10 Millionen Euro erhöht. Größter Einzeletat: der Bau eines neuen Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationszentrums, das 2025 eröffnen soll. Dessen Schwerpunkt soll die Erforschung von Rebkrankheiten sowie die Züchtung neuer Hybridsorten sein. Weitere Ziele sind der Ausbau der internationalen Präsenz sowie die Förderung der Appellation und dessen rechtlicher Schutz.

10. Die Nachrufe: Vier, die man nicht vergessen wird

Gleich vier prominente Akteure der Champagnerbranche sind im vergangenen Jahr von uns gegangen. Im 31. März verstarb Laurent Fresnet (o. l.), der Kellermeister des Reimser Traditionshauses Mumm nach einer kurzen, aber schweren Krankheit mit erst 56 Jahren. Der aus der Champagne stammende Fresnet war 2015 und 2016 von der International Wine Challenge als „Sparkling Wine Maker of the Year“ ausgezeichnet worden, bevor er im Januar 2020 zur Maison Mumm gekommen war. Am 21. Juli ist der Champagner-Winzer und Biodynamie-Pionier Jean-Pierre Fleury (o. r. ) im Alter von 77 Jahren verstorben. Er hatte das Champagner-Haus seiner Eltern in Courteron im Département Aube 1962 übernommen und die gesamte Fläche 1992 als erster Champagnerproduzent überhaupt biodynamisch zertifizieren lassen.

Der Agraringenieur Gilles Descôtes (u. r.) stand seit 2003 in Diensten von Champagne Bollinger in Aÿ und wurde 2013 zum Chef de cave befördert, wo er unter anderem die Blanc-de-Noirs-Serie PN entwickelte. Schwer erkrankt, ging er 2018 in den Ruhestand, blieb aber offiziell bis 2022 im Amt. Er verstarb im Januar 2023 mit nur 57 Jahren. Vom Winzer und Politiker Philippe Martin (u. l.) mussten Freunde und Familie im November Abschied nehmen. Martin verantwortete nicht nur ein Weingut in Cumières, er war auch Politiker: viele Jahre lang Bürgermeister, Abgeordneter der Marne und sogar Mitglied des Europäischen Parlaments. Nicht nur die von ihm als Bürgermeister in Auftrag gegebenen bezaubernd verspielten Metallskulpturen am Ufer der Marne in Cumiéres werden von ihm bleiben.

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Beitragsbild: Weinberge bei Mutigny und Avenay-Val-d’Or: Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images; Moët-Gläser: LVMH / Stephane Cardinale; Chardonnay-Lese in Avize: Jean-Charles Gutner / Cueillette; Henriot: Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images; Elise Losfelt und Cyril Brun: Champagne Charles Heidsieck / Léo Ginailhac / Erell Digital; Fasskeller Bollinger: Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images; Voltis-Rebe in einem Weinberg von Piper-Heidsieck: Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images; Champagne Didier Chopin: public domain; Yoshiki Champagne: Champagne Pommery Japan; Champagner-Kapsel Champagne Roederer: Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images; Comité Champagne: public domain; Laurent Fresnet: Maison Mumm; Jean-Pierre Fleury: Champagne Fleury; Gilles Descôtes: Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images; Philippe Martin: Champagne Philippe Martin; Metallskulptur an der Marne von Eric Sleziak: Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images

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