Château Lafleur – das Rätsel von Pomerol

Das Weingut hat den einzigen Wein produziert, bei dem Weinkritiker Robert Parker die Tränen gekommen sind. Unter den großen Weinen der Welt produziert Château Lafleur für manche den vielleicht aufregendsten, sicherlich aber den rätselhaftesten. Ein Besuch auf dem Weingut versucht, dem Mysterium auf den Grund zu gehen.

12 Minuten Lesezeit
Omri Ram

Was macht einen Wein wirklich groß? Der Preis, die Bewertungen, die mangelnde Verfügbarkeit? Château Lafleur ist nach Pétrus und Le Pin der drittteuerste Wein des Bordelais, in den Annalen des „Wine Advocate“ sind nicht weniger als sieben Weine mit glatten 100 Punkten verzeichnet und die produzierte Menge von 1.000 Kisten ist geradezu lächerlich gering. Seinen Ruf aber hat etwas anderes begründet. Seine einzigartige Persönlichkeit, die Fähigkeit, selbst erfahrene Verkoster zu berühren und, wie Jane Anson schreibt, „unser Blut in Wallung zu bringen“.

„Lafleur ist nicht Bordeaux. Lafleur ist Lafleur!“ Omri Ram, der Régisseur und Kellermeister des Weinguts, setzt gleich zu Beginn ein Ausrufezeichen. Aber eines, das verwirrt. Denn selbstverständlich gehört dieses winzige Weingut von nur 4,58 Hektar als Teil der Appellation Pomerol zum Bordelais. Auch die Nachbarn wie Château Pétrus, Lafleur-Pétrus, L`Évangile und Vieux Château-Certan zählen sämtlich zum Hochadel des Anbaugebiets, auch wenn sie niemals offiziell klassifiziert wurden. Was also ist auf Lafleur anders, was macht seine Weine so außerordentlich?

Eine Saga in fünf Akten

Die Antwort findet sich, so ist Omri Ram überzeugt, in der Geschichte des Weinguts. Deshalb muss jede Erklärung mit einem Rückblick beginnen. Er erzählt die Geschichte draußen im Weinberg, während wir durch dessen Rebzeilen spazieren. Nicht aus Gründen der Corona-Pandemie, sondern weil sie so eng mit dem Grund und Boden von Château Lafleur verwoben sind. Für das gut 300 Meter lange und 150 Meter breite Rechteck – „un seul tenant“, wie die Franzosen sagen −, das durch seine sich kreuzende Längs- und Querachse wie ein Garten angelegt ist, benötigen wir freilich gut zwei Stunden. Denn es ist eine Saga in fünf Akten und mit drei faszinierenden Hauptdarstellern: der Besitzerfamilie, dem Terroir und den Reben von Château Lafleur.

Im Grunde begann alles damit, als der in Libourne lebende Weinhändler Henri Gréloud um 1850 das an der Nordgrenze der heutigen Appellation Pomerol gelegene Château Le Gay erwarb. Zu dieser Zeit war das Pomerol noch längst nicht das Weinanbaugebiet, das es heute ist – und gegenüber dem Médoc am linken Ufer der Gironde weit im Hintertreffen. Tatsächlich wurden die Weine zu dieser Zeit vor allem in Libourne und Umgebung getrunken. Doch der steigende Bedarf etwa aus Belgien weckte auch im Pomerol den Ehrgeiz der Händler, statt der einfachen lokalen Herkunftsangabe eine Château-Benennung durchzusetzen. Wegen der komplizierten Besitzverhältnisse war freilich das schwierig. Noch heute teilen sich gut 30 Winzer das etwa 120 Hektar große Sahnestück von Pomerol, das „Haut Plateau“, eine Fläche, die kleiner ist als der Grundbesitz jedes Premier Grand Cru aus dem Médoc.

Winzer- statt Händlerlogik

Also fassten die Händler, die, wie die Familie Moueix, zumeist aus der Corrèze aus Mittelfrankreich stammten, auch weiter voneinander gelegenen Parzellen zusammen, um sinnvoll vermarktbare Betriebsgrößen zu schaffen. Henri Gréloud, dessen Familie bereits seit 1650 das Weingut Château Grand Village in Mouillac im Fronsadais besaß, folgte dagegen nicht der Händler-, sondern der Winzerlogik. Er trennte 1872 einen schon früh als lieu-dit genannten Teil namens „La Fleur“ von Le Gay ab, von dessen besonderem Wert er überzeugt war, und errichtete dort ein bescheidenes Anwesen. Bereits in der 1893er-Ausgabe der Bordeaux-Bibel von Cocks und Feret rangierte die Qualität von „Château La Fleur“ auf Rang drei.

Nach dem Tod von Henri Gréloud im Jahr 1900 erbte dessen ältester Sohn Charles den Besitz. Da dieser aber kinderlos war, verkaufte er 1915 die Châteaux Le Gay und Lafleur an den Libourner Weinhändler André Robin, der zehn Jahre zuvor die Tochter seines jüngeren Bruders Edgard geheiratet hatte. Robin, der auch Präsident der Libourner Landwirtschaftskammer war und später zum „Ritter des landwirtschaftlichen Verdienstes“ geschlagen werden sollte, war nach dem Erwerb der Weingüter regelrecht vernarrt in seine neue Winzerexistenz. Er verkaufte sein Unternehmen und widmete sich nun ausschließlich dem Weinbau. Erfahren in Tier- wie Rebzucht, schuf er auf sandigen Böden von Le Gay eine Rebschule, die ihm eine einzigartige „Sélection massale“ von erstklassigen alten Bouchet-Reben (wie der Cabernet Franc im Pomerol genannt wird) der Vor-Phylloxera-Zeit und den Ersatz älterer Sorten wie Noir de Pressac (Malbec) durch hochwertige Merlot-Reben ermöglichte. Diese im Wesentlichen in den Dreißigerjahren abgeschlossenen Arbeiten bildeten den zweiten Akt und schufen die Grundlage für das erste „Goldene Zeitalter“ von Château Lafleur.

Die Schwestern Robin

Im Dezember 1947 allerdings verstarb André Robin, und die beiden Weingüter wechselten in den Besitz seiner beiden Töchter Therèse und Marie.  Unter den beiden unverheirateten und zutiefst gläubigen, zu diesem Zeitpunkt „mittelalten“ Schwestern (die ältere war 41, die jüngere 35 Jahre alt, früher hätte sie wohl als „Jungfern“ bezeichnet) begann nun Akt drei und eine der bizarrsten Episoden in der Geschichte des modernen Weinbaus. Während der Betrieb auf Château Le Gay, das in der Reihenfolge der Güter immer hintenan stand, seinen mehr oder weniger üblichen Gang ging, beschlossen die Schwestern zu Ehren ihres Vaters auf Château Lafleur, dem „Diamant“ der Familie, nichts, aber auch gar nichts zu verändern. Die heute so moderne Low-Intervention-Praxis fand in den Jahren des Nichts-Tun der Robin-Schwestern ihre erste radikale Ausprägung.

Das hatte ganz unterschiedliche Auswirkungen. Zwar blieb die Devise ihres Vaters „Qualität vor Quantität“ grundsätzlich gültig. Weil sie aber im Gegensatz zu ihm keine „bäuerliche Intuition“ besaßen, fielen schwache Jahrgänge auf Lafleur ganz besonders schwach aus. Wegen ihres katholischen Glaubens wurden unreife oder verfaulte Beeren nicht aussortiert, sondern einfach mitgepresst. Der Erntezeitpunkt richtete sich prinzipiell zu dieser Zeit nach dem drohenden Herbstregen. War es dann so weit, wurde der Tradition gemäß zuerst immer mit Le Gay begonnen. Zwei Tage später wechselten die Erntehelfer über die Straße und schlossen nach zwei weiteren Tagen mit dem Nachbarn ab. Dadurch war Lafleur jahrzehntelang das Weingut, das als letztes im Pomerol mit der Ernte abschloss, teilweise mit fatalen, teilweise mit spektakulären Ergebnissen.

Tradition statt Moderne

Der Widerwille gegenüber allem Neuen zeigte sich besonders in der Aversion gegen Pflanzenschutzmittel, synthetischen Dünger und Mechanisierung, die in diesen Jahren auch die Weinberge des Bordelais regelrecht überschwemmten. Aus Geiz hielten die Schwestern Robin noch nicht einmal Pferde für die Weinbergsarbeit, sondern Ochsen. Der erste Traktor, von ihnen „Biest“ genannt, wurde 1975 nur deswegen angeschafft, weil Ochsen zu dieser Zeit als Zugtiere völlig vom Markt verschwunden waren. Die Pflanzdichte entspricht daher auf Lafleur teilweise noch immer dem dichten, ochsengängigen „Carré de Pomerol“ von 1,30 x 1,30 Meter aus dem 19. Jahrhundert. Als 1956 dann ein regelrechter Jahrhundertfrost das Bordelais heimsuchte, sorgte schließlich der manifeste Eigensinn der Schwestern, den viele Starrsinn nannten, dafür, dass Château Lafleur schließlich eine grundsätzlich andere Richtung einschlug als die die übrige Region.

Tatsächlich hatte die Region im Januar ein sehr zeitiges Frühjahr erlebt, sodass sich das Rebholz bereits voll Wasser gesogen hatte und sich erste Triebe gebildet hatten. Im Februar fiel die Temperatur dann unter minus 20 Grad – mit katastrophalen Folgen. Die Kristallbildung im Innern der Reben zerfetzte das Gehölz, viele Weinberge sahen aus wie nach Feuergefechten. Gut 80 Prozent der Weinstöcke im Bordelais wurden zerstört, im früh reifenden Pomerol gar 90 Prozent. In dieser Situation legte die Regierung, die (auch in Erinnerung an die Dreißigerjahre mit ihren fatalen politischen Folgen) Armut auf dem Land unbedingt verhindern wollte, ein schnelles und umfassendes Hilfsprogramm auf. In kürzester Zeit wurde aus den wenigen überlebenden Reben die besten selektioniert und klonal vermehrt. Dadurch verringerte sich die Diversität des Genpools der Reben im Pomerol. Zudem propagierte die Landwirtschaftskammer in Libourne wie in einem Mantra „Merlot, Merlot, Merlot“ und drängte auf weite, maschinengerechte Pflanzabstände.

Ein Relikt der Vergangenheit

Die Robin-Schwestern rodeten nicht einen Weinstock. Natürlich war auch Château Lafleur vom Frost getroffen worden, aber in ihren Augen war der staatliche Rettungsplan bloß eine neue Mode. Mit dem Segen des Pfarrers vertrauten sie darauf, dass unter dem „Cavaillon“, dem niedrigen, vom Pflug unerreichbaren Erdhügel um die Rebe, noch der ein oder andere Trieb im alten Holz lebensfähig war. Im nächsten Frühjahr stellte sich heraus, dass tatschlich gut 70 Prozent der alten Reben auf Château Lafleur überlebt hatten . Es ist die Ursache dafür, dass hier die ältesten Rebstöcke des Pomerol stehen und der Cabernet-Franc-Anteil mit gut 50 Prozent so hoch ist wie nirgendwo sonst in der Appellation.

Die tiefgreifenden Auswirkungen auf die Weinqualität von Château Lafleur waren zu dieser Zeit freilich noch nicht abzusehen. Während Jean-Pierre Moueix in den Fünfzigerjahre mit seinem Werbefeldzug für das Pomerol als Ganzes und den Nachbarn Château Pétrus konkret vor allem in den USA erste große Erfolge feierte, blieb die Nachfrage für Lafleur überschaubar und entsprachen die Preise noch Mitte der Siebzigerjahr denen des fünften Gewächses Château Grand-Puy-Lacoste aus dem Médoc. Jahr für Jahr verwandelte sich das Weingut mehr in einen skurrilen und weltabgewandten Ort, ein eigenartiges, in die Gegenwart ragendes Relikt aus der Vergangenheit und eher eine Scheune oder Stall für Haus- und Hoftiere denn ein Weingut.

Besitzerwechsel

1984 schließlich starb Thèrese Robin im Alter von 77 Jahren und ihre Schwester Marie beschloss, von der Direktion der Châteaux Le Gay und Lafleur zurückzutreten. Stattdessen übernahm, als vierter Akt der Geschichte, Neffe Jacques Guinaudeau, der bereits seit 1980 das Familienweingut Grand Village leitete, die beiden Pomerol-Weingüter in sogenannter „métayage“, der traditionellen Halbpacht. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich freilich bereits einiges auf Lafleur verändert. 1975 war das Weingut zum ersten Mal vom jungen Weinkritiker Robert Parker besucht worden, der wenig später einen bescheidenen Newsletter starten sollte, in dem er Château Lafleur zwar „mixed results“ bescheinigen sollte, in Jahrgängen wie 1975 aber auch bemerkenswert hohe 96 Punkte vergab.

Auch der Eigentümer des Nachbarweinguts Château Pétrus, der Négociant Christian Moueix, war aufmerksam geworden und hatte die greisen Schwestern 1981 überzeugen können, Lafleur 1981 in sein Vertriebsportfolio aufzunehmen und die Weinbergs- und Kellerarbeit durch Jean-Claude Berrouet und dessen Team von Château Pétrus durchführen zu lassen. 1982 war dann auf Château Lafleur ein außergewöhnlicher Wein erzeugt worden, und als Robert Parker 1985 die erste Ausgabe seines Bordeaux-Führers publizierte, rangierte Château Lafleur, dem die Qualität eines „second growth“ attestiert wurde, bereits hinter Pétrus und Trotanoy auf Rang drei in der Gutshierarchie des Pomerol.

Das zweite „Goldene Zeitalter“

Jacques Guinaudeau hatte also eine Vorstellung von den Stärken von Château Lafleur – selbst wenn ihm seine Tanten keine alten Jahrgänge hinterlassen hatten −, aber er wusste vor allem um die große Schwäche des Weinguts: seine Unregelmäßigkeit. Tatsächlich, so sagte er sich, gab es keine Entschuldigung, nicht in jedem Jahr einen großen Lafleur zu machen – und wenn das nicht gelänge, dann gab es, wie 1987 oder 1991, eben keinen Lafleur. Neben einem „Großreinemachen“ und Investitionen in neue Fässer etwa galt Guinaudeaus Augenmerk zuallererst dem Weinberg. Der war mittlerweile in schlechtem Zustand, schlecht beschnitten und zu gut 30 Prozent aus toten Rebstöcken bestehend, zwischen denen viele der verbliebenen mangels Nährstoffkonkurrenz zu regelrechten „Monsterreben“ herangewachsen waren.

Guinaudeau entschloss sich zu einer „Complanation“, also gemischten Parzellen von neuen Setzlingen und einer „Rekonstruktionen“ der alten Reben, bei denen er die Wuchsrichtung des alten Holzes um 180 Grad drehte und aus zwei Wasserschossen aus dem Altholz neue Fruchttriebe zog, die er – der größeren Ausgewogenheit zuliebe – im doppelten Guyotschnitt erzog. Wer heute durch die gut 21.000 Reben von Lafleur spaziert, fühlt sich bei manchen der bis zu 100 Jahre alten Weinstöcke an die Ents aus Tolkiens „Mittelerde“ erinnert: Statt uniformer Rebzeilen Versammlungen ehrwürdiger Individuen. Sie bilden das Rückgrat von Château Lafleur und verleihen ihm seine fast Médoc-artige Struktur – und sind nicht zuletzt für das zweite „Goldene Zeitalter“ auf Château Lafleur verantwortlich.

Reben und Terroir

Auch die Suche nach neuen Setzlingen erfolgte auf eigensinnige Art. Weil Guinaudeau von der Qualität des Cabernet-Franc-Materials aus dem Bordelais nicht überzeugt war, pflanzte er erstmals 2000 in der Parzelle „Le Puy“ Setzlinge von der Loire – die freilich auch nicht überzeugen konnten. Also reaktivierte Guinaudeau das Prinzip der „Séléction massale“, indem er 8.000 „interessante“ Rebstöcke aus Lafleur auswählte und untersuchte und schließlich 120 davon in einer eigens eingerichteten Rebschule auf Château Grand Village vermehrte. Schließlich wurden 64 Varianten Bouchet auf das Wurzelwerk der Loire-Reben aufgepropft – eine einzigartige Vielfalt.

Bereits 1996 hatte Jacques Guinaudeau mit einer Hinwendung zum Terroir von Lafleur ein weiteres Kapitel eingeläutet. Unter Federführung von Cornelis van Leeuwen, dem führendem Terroir-Spezialisten der Universität von Bordeaux, wurden 13 unterschiedliche Bodenformationen von Château Lafleur kartiert. Dabei stießen die Geologen auf zwölf Bodentypen aus der Kies-Familie mit jeweils unterschiedlichen Ton- und Sandanteilen, und nur einen, in dem eisenhaltiger Ton dominiert. Das ist deswegen bemerkenswert, weil es gerade dieser eisenhaltige Ton ist, dem Château Pétrus seinen Ruhm verdankt. Auf Lafleur zieht sich dieser Boden als leicht diagonales Tal (die 0,69 Hektar große Parzelle heißt „La Bassine“, die „Wanne“) quer durch das markante Reben-Rechteck des Weinguts und gibt heute die Trauben für „Les Pensées“.

Die sechste Generation

Dieser Wein, der seit 2018 nicht mehr den Zusatz „de Lafleur“ trägt,  ist alles andere als ein Zweitwein, sondern der eigentliche Pomerol-Ausdruck von Lafleur. Was den Ansprüchen nicht genügt, wird dagegen als Fassware verkauft. Die Trauben für den Grand Vin aber stammen von kiesigen Abschnitten, von den augenzwinkernd „rechtes Ufer“ genannten Parzellen mit Merlot wie „La Galle“, dessen Böden an die „Gallets rouges“ der Rhone erinnert, oder denen mit Bouchet bepflanzten am „linken Ufer“ wie  „Le Levant“, dem Herzen von Lafleur. Diese Besonderheit von Lafleur formt für Jane Anson gemeinsam mit dem direkt angrenzenden Boden von Château Pétrus das „Yin und Yang des Mythos Pomerol“.

2001 verstarb die Besitzerin Marie Robin, und Jacques Guinaudeau, seiner Frau Sylvie und den drei Kindern Baptiste, Clara und Noëmie gelang im Folgejahr in einem Kraftakt, die Erbschaftssteuer aufzubringen und die übrigen Erben auszuzahlen. Freilich um den Preis, dass Château Le Gay verkauft werden musste. Jacques und Sylvie Guinaudeau übernahmen nun selbstständig die Weinproduktion, seit 2005 unterstützt durch Sohn Baptiste und dessen Ehefrau Julie, die schließlich 2012 beide die Leitung von Château Lafleur übernahmen – als Vertreter der sechsten Generation der Familie und vorläufig der letzte Akt in der Geschichte des Weinguts.

Balance aus alt und neu

Ein Jahr später kam Omri Ram auf das Weingut, der als Sommelier in Tel Aviv begonnen und nach einem Weinbau-und-Önologie-Studium in Montpellier zuvor auf Weingütern in Israel, Spanien und Neuseeland gearbeitet hatte. Als einziger Bewerber hatte er sich per Brief vorgestellt – was, ohne dass er es ahnte, perfekt zu Château Lafleur passte. Der Zeitvertrag wurde mehrfach verlängert, und schließlich rutschte Ram in die Rolle des verantwortlichen Kellermeisters – unterstützt von Vincent Dupuch, dem diskreten, aber derzeit wohl angesagtesten externen Berater am rechten Ufer. Aber Ram kümmert sich genauso intensiv um den Weinberg, denn beim kleinen Team auf Lafleur sind Titel und Hierarchien zweitrangig und jedermann und jedefrau für alles gemeinsam verantwortlich.

Gegenüber der nachhaltigen Weinbergsbewirtschaftung, die auf Lafleur eher der Gartenarbeit ähnelt, ist die im Keller beinahe zweitrangig. Dennoch hat sich gegenüber der Robin-Ära (kein Entrappen der Trauben, lange Mazeration, kaum neues Holz), aber auch gegenüber den an Château Pétrus angelehnten Achtziger- und Neunzigerjahre (etwa mit zu zwei Dritteln neuen Barriques) einiges geändert. Statt Nostalgie legt Omri Ram Wert auf die Balance zwischen Tradition und Technologie. So hat das eher an ein Gutshaus denn ein Château erinnernde Anwesen 2018 einen dezenten Anbau erhalten, in dem der neue Weinkeller mit eigenem Traubenempfangsbereich mit zweifacher Sortierung, erweiterten Fermentationsmöglichkeiten und dem Fasskeller für die einjährigen und zweijährigen Jungweine Platz finden.

Ein erweitertes Portfolio

Heute werden die Trauben komplett entrappt und nicht mehr in Zement, sondern sanft in acht Edelstahl-Tanks von 36 bis 51 Hektolitern Fassungsvermögen fermentiert – von kleineren Gebinden hält Omri Ram wenig, weil dabei die Gefahr der Überextraktion zu groß sei. Anschließend lagern die Weine für den Grand Vin zu einem Viertel in neuen, zu drei Viertel in acht Monate gebrauchten Barriques – bereits seit drei Generationen vorzugsweise vom Tonnelier Darnajaou, aber auch von Taransaud, weil man auf zwei Beinen besser stehen könne. Von einer größeren Fassvielfalt, wie man sie mittlerweile häufig in der Region findet, hält Omri Ran nichts, weil sie die Ausdrucksklarheit des Wein beeinträchtige.

Seit Jacques und nach ihm sein Sohn Baptiste Guinaudeau das Weingut übernommen haben, hat sich die Weinwelt dramatisch verändert. In den überhitzten Märkten zwischen London, New York und Hongkong ist Château Lafleur mittlerweile eines der heißesten Investments überhaupt. Auch aus diesem Grund hat sich die Familie 2019 entschlossen, nicht mehr über Négociants zu verkaufen, sondern den Vertrieb selbst in die Hand zu nehmen, um näher am Konsumenten zu bleiben. Zudem wurde die Produktpalette erweitert. Neben dem weißen und roten Château Grand Village vom Stammsitz in Mouillac gibt es (nach einer Reihe als Acte I bis VIII bezeichneter Vorläufer) seit dem Jahrgang 2018 den Perrières de Lafleur, der von auf Fronsac-Kalkstein gewachsenen Bouchet-Reben mit Lafleur-Genetik stammt, sowie den raren weißen Les Champs Libres, der eine eigene Geschichte verdient. Der Grand Vin jedenfalls ist mehr denn je in herausragender, Maßstäbe setzender Verfassung – und in einem Jahrgang wie 2016 bereits an der Grenze zur Perfektion: mit seiner trotz enormer Dichte und aberwitzigen Komplexität fast ätherischen Art, der seidigen Textur und dem raffinierten Parfum aus dunklen Früchten, Veilchen, Tabak und einer Vorahnung von Trüffel.

Die Werte von Lafleur

Nach wie vor gibt es in den Straßen und Wegen um das Weingut nicht einen einzigen Hinweis auf Lafleur. Andere Zeichen muss man dagegen zu lesen wissen. So schmückte noch bis ins Jahr 2002 die Unterschrift der jeweiligen Inhaber das schneeweiße Etikett des Weins, seither prangt wieder der Name Greloud auf dem Label: zugleich eine Referenz der Familie an den Gründer wie ein Bekenntnis zu den unveränderlichen Werten von Château Lafleur. Wer diese versteht, hat noch nicht das Rätsel der Weine gelüftet, aber er sieht sie zumindest mit anderen Augen.

Der Besuch fand im November 2021 statt.

Der Text ist ein leicht veränderter Wiederabdruck eines Artikel aus  FINE – Das Weinmagazin 1/2022.

Bildrechte

Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images

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