Der Schöpfer der Gastronomie
Auch Archestratos stammt aus Sizilien, dem kulinarischen Hotspot der griechischen Antike. Auf die Küche seiner Landsleute ist er freilich nicht gut zu sprechen: Keine Ahnung hätten die, wie man etwa einen Seewolf richtig zubereiten solle – denn sie würden ihn durch Käse, Essig und Gewürze völlig ruinieren. Käse zum Fisch gehörte freilich zu den Garnituren, die sein Vorläufer Mithaecus empfohlen hatte. Immerhin, in dieser Sache setzte sich Archestratos dauerhaft durch: Für Italiener ist die Kombination nach wie vor ein No-Go. Ansonsten hat er nicht viele Nachfolger gehabt. Zu rigide, zu detailverliebt sind seine Forderungen – zumal auf einem Gebiet, das bei vielen Zeitgenossen nicht in bestem Ruf stand.
Nur 62 Fragmente des Archestratos sind überliefert. Wir veranken sie Athenaios von Naukratis, der sie in sein umfangreiches Werk „Das Gelehrtenmahl“ aufgenommen hat. Bei aller Distanz nennt er ihn respektvoll nach dem einfallsreichsten Erfinder der griechischen Mythologie den „Dädalus der geschmackvollen Speisen“. Er zitiert auch andere Philosophen, die von Archestratos՚ „gastronomía“ und „gastrología“, wörtlich „Magengesetzlichkeit“ und „Magenwissenschaft“ sprechen. Das ist der erste Beleg des Begriffes Gastronomie, bevor man ihn im Frankreich des 18. Jahrhunderts wiederentdecken wird. Diese Gastronomie des Archestratus ist gemäß des Athenaios das „Herz der epikureischen Philosophie“, dessen „Vorläufer“ er sei.
„Die Erfahrung der süßen Dinge“
Es ist nicht viel, was wir über Archestratos wissen. Anders als Mithaecus, der seine Rezepte kurz und lakonisch mitteilt, von Koch zu Koch sozusagen, schreibt jener in Hexametern. Diese Form der Dichtung wurde kaum von einfachen Köchen beherrscht, zudem wurde sie in Griechenland nicht im stillen Kämmerlein gelesen, sondern bei Symposien, den antiken Trinkgelagen, rezitiert. Deren Teilnehmer waren reiche Bürger, die nicht selber kochten. Aus einer solchen Schicht scheint auch Archestratus zu stammen, anders lässt sich der kunstreiche Gebrauch des Hexameters nicht erklären. Es ist ein Paradox, das wir heute nicht mehr lösen können: Selber kein Koch, verfasst ein Autor ein Lehrgedicht, das in erster Linie von Einkauf und Zubereitung von Lebensmitteln handelt, ohne dass das seine Zuhörer eigentlich interessieren dürfte.
Aber vielleicht entsprach die damalige Wirkung dieser Verse der heutigen Lektüre von Gourmets, die Kochbücher von Dreisternechefs goutieren, ohne im Traum an eine eigene Realisierung der Rezepte zu denken? Archestratos jedenfalls geht es von Anfang bis Ende um den Genuss. „Leben im Luxus“ lautet die landläufige Übersetzung von „Hedupathia“, wie sein Buch im originalen Griechisch heißt. Genauer wäre: „Die Erfahrung der süßen Dinge“ – und genau dieses Thema scheint seine Zuhörer fasziniert zu haben. Weil Archestratos das aber auch noch betont, polarisiert er noch mehr als sein Vorläufer Mithaecus. Selbst Anthenaios, der ihn noch etwa fünfhundert Jahre später ausgiebig zitieren wird, zeigt deutlich seine moralische Missbilligung, wohingegen ihn alle technischen Details und Fakten zu faszinieren scheinen. Andere Autoren nennen Archestratus in einem Atemzug mit der Autorin Philainis, die ein Buch über die verschiedenen Stellungen beim Liebesakt geschrieben hatte.
Eine gastronomische Weltreise
Archestratos jedenfalls wusste, worüber er schrieb: Man nimmt an, dass er alle 60 Orte, die in seiner gastronomischen Reise durch die Welt genannt werden, selbst besucht hat: den Kopaïs-See in Böotien, der Heimat der schmackhaftesten Aale, das berühmte Byzantion mit seinen phänomenalen einjährigen Thunfischen, Phaleron und seine schmackhaften Anchovis, Ambrakia im Ionischen Meer und seine Jakobsmuscheln oder die Austernbänke von Abydos in den Dardanellen. Immer wieder handelt der Text davon, wie er die lokalen Märkte besucht und die besten örtlichen Produkte kauft. Aber die richtige Herkunft ist nur der erste Schritt: Archestatos fragt weiter auf der Suche nach dem optimalen Produkt: In welcher Jahreszeit schmeckt welcher Fisch am besten? Und in welchem Lebensalter … und welches Teilstück bzw. welche Textur: Kopf, Rücken oder Bauch … und schließlich welche Zubereitung? In den Fragmenten des „Leben im Luxus“ begegnet uns eine Produktethik, die uns heute beinahe japanisch anmutet, den Zeitgenossen aber fast unheimlich war.
„Und wenn du in die heilige Stadt, das berühmte Byzantion kommst,
dann empfehle ich dir, ein Steak vom Thunfisch der Hochsaison zu essen, denn es ist sehr gut und weich.“ Archestratos von Gela
Asiatisch mutet auch die Konzentration auf Meeresbewohner an, der Großteil der Rezepte beschäftigt sich mit Fisch oder Krustentieren. Das beruht freilich auf der grundlegenden Aufteilung der griechisch-antiken Küche in eine sakrale und eine profane Küche: in das Ritual für die Götter einerseits, in denen das von speziellen „Mageiroi“ geschlachtete und zubereitete Opferfleisch verzehrt wurde, und in das gemeinsame Mahl, das von Köchen zubereitet wurde, und bei dem bei festlichen Anlässen zwischen dem Deipnon, der Hauptmahlzeit, und dem anschließenden Symposium mit Weinbegleitung auch hinsichtlich der gereichten Speisen unterschieden wurde. Fisch galt hier als luxuriöser Höhepunkt, und ihm widmet sich Archestratus in besonderer Weise, auch wenn sich bei ihm auch Rezepte für Hase und Gans finden, die nicht als Opfertiere galten.
Produktethik und Eigengeschmack
Dabei respektiert er durch zurückhaltendes Würzen und wenig Saucenbeigabe den Eigengeschmack der Produkte, zweitausend Jahre, bevor dieser wieder bei Nicolas de Bonnefons am Hof von Versailles wieder zur wichtigsten Kategorie der Kochkunst werden sollte. Tatsächlich wird wohl Anchestratos selbst wohl noch den neuen Luxus erlebt haben, wie er nach dem Zug Alexander des Großen nach Persien und Indien vom Osten in den Westen strömte, geprägt von stärksten Aromen und Produkten, deren kulinarischer Wert lediglich in ihrer Seltenheit bestand. Dessen Erbe wird dann der Römer Apicius sein, dessen völlig überwürzte Küche unser kulinarisches Bild der Antike bestimmt hat und in dessen Bann Europa für über tausend Jahren stehen sollte.
Der Teller: Bonito in Feigenblättern
Den Bonito kann man im Herbst, wenn die Plejaden untergehen, auf jede erdenkliche Weise zubereiten. . . . Aber hier ist die allerbeste Art, mit diesem Fisch umzugehen. Sie brauchen Feigenblätter und Oregano (nicht sehr viel), keinen Käse, keinen Unsinn. Wickeln Sie ihn einfach schön in Feigenblätter ein, die Sie mit einer Schnur zusammenbinden, dann verstecken Sie ihn unter heißer Asche und achten Sie auf die Zeit: Er darf nicht zu lange garen. Holen Sie es aus Byzanz, wenn Sie wollen, dass er gut ist.
Archestratos, Fragment 35
Bildrechte:
Beitragsbild: Lancelot Théodore Turpin de Crisse: Vue imaginaire d’un port antique. Collection particulière, Paris
Kylix: Museum of Fine Arts, Boston
Krater: Museo Mandralisca, Cefalù
Dionysos-Schale: Staatliche Antikensammlung München
Porträtbüste: Roberto Tascone, Antopignato, CC-BY-SA-4.0
Literatur:
Archestratus: The life of luxury. Translated with an introduction and comment by J. Wilikins und S. Hill, Blackawton 2011
Andrew Dalby: Food in the ancient world from A to Z. London und New York 2003.