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RVF gegen Bettane: Frankreichs Weinführer im Vergleich

Auch wenn Print gegenüber Online stark in der Defensive steht, haben zumindest in den großen weinbauproduzierenden Ländern Europas die gedruckten nationalen Weinführer überlebt. SLP vergleicht in diesem Artikel Stärken und Schwächen der beiden wichtigsten Weinführer aus Frankreich. Ihre zentralen Unterschiede sind für die Weinwelt von grundsätzlicher Bedeutung.

8 Minuten Lesezeit

Eine jährlich aktualisierte Übersicht und Bewertung möglichst aller relevanten Weine eines Landes: Das ist das Versprechen eines klassischen nationalen Weinführers. Die Herausforderungen Digitalisierung und Pandemie haben bemerkenswert viele von ihnen überstanden. Aktuell vielleicht der prominenteste Verlust: der „WeinGuide Deutschland“ des Gault Millau. In Frankreich hat es den „Bettane + Desseauve“ zwischendurch schwer getroffen, gerade ist die Ausgabe 2023 erschienen. Wie schlägt sie sich gegen den Platzhirsch von der Revue du Vin de France?

Ein Blick zurück: zur Geschichte der Weinführer

Erster Weinführer von Luigi Veronelli
Die Mutter aller Weinführer

Die modernen Weinführer sind Kinder der Achtziger- und Neunzigerjahre. Abgesehen einmal vom historischen Vorreiter, dem „Catalogo Bolaffi dei vini d’Italia“, den Pionier Luigi Veronelli in der ersten Ausgabe 1969 für das Turiner Auktionshaus Bolaffi erstellt hatte. Damals noch ohne Qualitätsbewertungen, vielmehr mit Sternen für „Prestigio“ und „Popolarità“. 1980 startete Patrick Dussert-Gerber in Frankreich mit einem Fokus auf das Preisleistungsverhältnis, 1984 erschien die erste Buchausgabe „Vins de France“ des Gault Millau (auch ohne Bewertungen). Die allerdings wurde – nachdem die Jahrgänge 1986 bis 1991 nur in Sonderheften im Gault-Millau-Magazin vorgestellt wurden − erst 1992 (bis zur Einstellung 2011) wieder als Jahrbuch fortgesetzt. 1985 folgte dann erstmals der „Guide Hachette“. 1987 wurden in Italien der erste „Gambero Rosso“ und Veronellis „Le Cantine“ vorgestellt. Hierzulande schließlich 1994 der „WeinGuide Deutschland“ des Gault Millau.

Robert Parkers Weinführer Frankreich
Parkers erster Frankreichband 1994

Frankreich stand nicht nur durch seine bemerkenswerte Weinkultur, sondern durch die Stellung seiner Spitzenweine für Sammler und Investoren besonders im Fokus der Weinkritik. Traditionell besaßen angelsächsische Autoren beim Fine Wine, insbesondere Bordeaux, seit Ende des 19. Jahrhunderts ein größeres Renommee als ihre französischen Kollegen. Entsprechend florierte auch die britische Weinliteratur – allerdings nicht in Form von aktuellen Weinführern. In diese Lücke stieß der US-Amerikaner Robert Parker Mitte der Achtzigerjahre. Zusätzlich zu den Bewertungen in seiner Zeitschrift Wine Advocate publizierte er ab 1985 den Führer „Bordeaux“. 1987 folgte „Rhone und Provence“, 1990 „Burgund“. 1994 nahm er schließlich, auf Französisch, ganz Frankreich in den Blick. Mit dem 100-Punkte-System revolutionierte er die Weinkritik.

Eine Reaktion auf Robert Parker

Erster Weinführer der Revue du vin de France von 1996

Es war vermutlich dieser offensichtliche Verlust an Relevanz, der 1995 die Verleger der wirkungsmächtigsten französischen Weinpublikation, dem seit 1927 existierenden Magazin La Revue du Vin de France, dazu inspirierte, einen eigenen jährlich erscheinenden Weinführer für Frankreich herauszugeben: „Vins et domaines. Le classement de 1996“. Für ihn zeichneten der langjährige Herausgeber und Chefredakteur Thierry Desseauve sowie sein Kollege Michel Bettane verantwortlich. Das war in dreifacher Hinsicht ein Coup. Einmal galt Bettane auch international als bedeutendster französischer Weinkritiker. Zweiten gab sich die Auswahl ziemlich radikal und selbstbewusst. Bei einer Gutsabstufung zwischen null und drei Sternen firmierten etwa Château Mouton-Rothschild oder Pétrus bei zwei, Le Pin sogar nur bei einem Stern.

In der Beurteilung der Weingüter erreichten Bettane + Desseauve 1996 einen nie wieder erreichten Stand publizistischer Weinkritik.

Neue Bewertungskriterien bei Weinführern
Bahnbrechend und umstritten: die neuen Bewertungskriterien in Bettane & Desseauves „Classement“ ab 1996

Visionär, allerdings von keinem Führer je wieder aufgenommen, war schließlich die äußerst komplexe Beurteilung. So gab es − neben der des Gutes (0 bis 3 Sterne) und konkreter Abfüllungen (1 bis 5 Gläser) − Einschätzungen auf einer Skala von 1 bis 3 hinsichtlich der jeweiligen Güte des Terroirs (T), der Regelmäßigkeit der Qualität (R) und der Langlebigkeit (V) sowie hinsichtlich der Stilistik eines Weinguts. Einmal bezüglich der Finesse (F) und zweitens bezüglich der Kraft (P für „puissance“). Das war hinsichtlich der Differenzierung ein nie wieder erreichter Stand publizistischer Weinkritik. Und natürlich ein gezielter Hieb Richtung Simplifizierung, sei es aus den USA oder von anderswo.

Das Schisma der französischen Weinkritik

Der neue Weinführer von Bettane & Desseauve von 2008

2004 kam es dann allerdings zum großen Schisma der französischen Weinpublizistik. Nach dem Ankauf der Revue du Vin de France durch Marie-Claire und die Mediengruppe Lagardère (zu der auch Marktführer Cuisine et Vins de France gehört) stiegen Bettane und Desseauve aus. Drei Jahre später publizierten sie beim Schweizer Verlag Minerva „Le Grand Guide des Vins de France 2008“. Mit „nouvelle formule“, wie man in Frankreich sagt, also inhaltlich neu konzipiert. Aber leider gemäß des Standardschemas aller anderen Weinführer: Gutseinstufung, Kurzpräsentation und Punktbewertung der einzelnen Weine (nun nach dem 20-Punkte-Schema). Dennoch galt der „Bettane & Desseauve“ trotz mehrfachem Verlags- und Formatwechsel in den Folgejahren vielen als der führende französische Weinführer.

Corona jedoch traf die beiden Kritiker mit aller Wucht. 2020 erschien der Führer für das Jahr 2021 lediglich als Sonderheft des neu gegründeten Magazins „En Magnum“: eine offensichtliche Verlegenheitslösung. Im Folgejahr kam dann „Les meilleurs Vins. Le Nouveau Bettane & Desseauve 2022“ auf den Markt, im Großformat und wieder völlig neu konzipiert. Wenn man es positiv wenden wollte, wirkte der Führer jetzt „magaziniger“, wendet man es negativ: schlicht unfertig.  Zur Champagne etwa folgte auf ein langes Interview eine Aufstellung der besten jahrgangslosen Bruts. Dann kamen eine Aufzählung von Punktebewertungen zu verschiedenen Jahrgängen, ein Porträt von Vitalie Taittinger, einige Preisleistungschampions und schließlich eine summarische Aufstellung der wichtigsten Güter samt Bewertung, aber ohne konkrete Betrachtung der Produktion. Jedenfalls konnte der Band das zentrale Versprechen eines jährlichen Guides nicht einlösen: alle relevanten Weine sämtlicher Regionen zu präsentieren und zu bewerten.

Verschiedene Nachfolgebände von Bettane & Desseauve
Der Weinführer von Bettane & Desseauve änderte häufig Verlag und Layout

Die Weinführer im Vergleich

Der Weinführer der Revue du Vin de France aus dem Jahr 2021

Kein Wunder, dass sich viele wieder dem Konkurrenten zuwandten: dem „Guide des meilleurs vins de France“ der Revue du Vin de France (im Folgenden RVF). Der war zwischenzeitlich zur Nummer 1 der französischen Weinführer aufgestiegen und überzeugte mittlerweile Jahr für Jahr durch konsistente, nachvollziehbare Ergebnisse. Als in diesem Herbst nach dem RVF 2023 auch der „Bettane + Desseauve“ (= B+D) wieder im Kern im klassischen Aufbau erschien, war ein idealer Moment gekommen, beide Führer miteinander zu vergleichen. So arbeiten seit 2021 beide Führer mit dem 100-Punkte-Schema. Und seit der RVF dieses Jahr eine neue 4-Sterne-Kategorie eingeführt hat, haben beide Publikationen nun eine fünfstufige Gutsbewertung: 0 bis 4 Sterne bei RVF und 1 bis 5 Sterne bei B+D. Beide Führer geben an, etwa 1.200 Betriebe zu porträtieren.

Die App "Le Grand Tasting"
Vorteil B+D: die App

Davon abgesehen, nehmen Interviews und Porträts nach wie vor bei B+D viel Raum ein. Entsprechend ist der Führer farbig und mit vielen Illustrationen ausgestattet. Das geht zulasten der Gutsporträts und der schieren Menge der im Buch präsentierten Weine. Tatsächlich verweist B+D auf seine App „Le Grand Tasting“. Hier finden sich weitere Bewertungen (Punkte sowie konkrete Verkostungsnotizen), Kontaktdaten sowie das Archiv des Weinführers. Diese Möglichkeit fehlt RVF. Hier sind die Verkostungsnotizen zum jeweiligen Jahr in den zweiten Teil eines Gutsporträts eingearbeitet. Die Informationsmenge ist trotz starker Differenzen beim Umfang (RVF: 800 Seiten; B+D 360 Seiten) wegen des erheblich unterschiedlichen Formats schwer zu vergleichen. B+D ist mit 19,90 € gegenüber 29,95 € für RVF deutlich preiswerter.

Zwei Vorstellungen von Exzellenz

Château Lafleur in Pomerol
In beiden Führern mit an der Spitze: Château Lafleur in Pomerol

Kommen wir zum Kern, nämlich der jeweils unterschiedlichen Einschätzung von Exzellenz im französischen Weinbau. Beide Führer porträtieren sämtliche französische Regionen. Allerdings fällt auf, dass B+D einige große Regionen stärker in den Blick nimmt. Aus dem kleinen Savoyen etwa stellt B+D ganze 9, RVF dagegen 27 Weingüter im Hauptteil vor. Umgekehrt nennen aus der Groß-Appellation Champagne RVF 80 und B+D 118 Adressen. Den entscheidenden Unterschied zwischen beiden Führern macht die Verteilung der Weingüter in Güteklassen aus. RVF ist mit seiner neuen Kategorie von 4 Sternen sehr restriktiv umgegangen und hat diese gerade einmal 22 Winzern zuerkannt. Konkret bedeutet das, dass hier kein Weingut aus dem Süden zur französischen Spitze gezählt wird, kein Weingut von der Loire und auch nicht aus Chablis (also etwa weder Château Rayas, noch Clos Rougeard oder Raveneau). Umgekehrt zählt B+D 88 Weingüter zur höchsten Kategorie, also die vierfache Menge des Konkurrenten!

Eine Flasche Beaune 1er Cru Clos des Mouches von Joseph Drouhin
Unterschiedlich beurteilt: Maison Drouhin

Beim Blick in die Regionen wird dieses Ergebnis anschaulicher. Die Côte d’Or gewichten beide Führer etwas gleich stark, mit jeweils etwas über 60 Weingüter sowohl an der Côte de Nuits als auch an der Côte de Beaune. Die unterschiedliche Gewichtung ist deutlich. RVF sieht im Norden 4 Weingüter der höchsten und 9 Weingüter der zweiten Klasse, B+D dagegen 8 respektive 22. Im Süden liegen die Zahlen bei 1 bzw. 9 (RVF) versus 4 bzw. 19 (B+D). Dabei fällt auf, dass bei B+D die klassischen Négociants wie Bichot, Bouchard, Chanson, Jadot, Latour und Drouhin sämtlich in der zweiten Klasse (4 Sterne) stehen. Bei RVF findet sich nur einer davon (Drouhin) in der dritten Klasse, und die übrigen (Chanson, Jadot, Bichot) werden noch niedriger gelistet (Bouchard und Latour sind nicht enthalten).

Grafik Klassifizierungsverteilung der Weinführer
Verteilung der Champagnerhäuser 2023 nach Klassifizierungsklassen 1 bis 5

In der Champagne zeigen sich die Unterschiede vielleicht am deutlichsten. Eine statistische Verteilung der Champagnerhäuser, Kooperativen und Winzer auf die unterschiedlichen Qualitätsklassen der jeweiligen Führer macht gleichsam die unterschiedliche Bewertungspolitik deutlich: Bei RVF die scharfe pyramidenförmige Selektion, die an vergleichbaren Klassifizierungsinstitutionen wie dem Guide Michelin geschult ist und auf klassische Hierarchie setzt. Bei B+D eine deutlich breitere Auswahl an der Spitze. Auch hier fällt auf, dass B+D große Häuser hoch einstuft. Betrachten wir die fünf Hauptmarken der drei größten Produzenten: Moët & Chandon und Veuve Clicquot (MHCS Moët Hennessy), Pommery und Vranken (Vranken-Pommery Monopole) sowie Nicolas Feuillatte (Centre Vinicole Champagne). Diese stuft B+D in die Klassen 4|5|3|2|3 ein, die RVF lediglich in 1|2|0|0|0. (In der Reihenfolge der genannten Produzenten; dabei entspricht 5 der höchsten Klasse, 0 = keine Aufnahme im Guide)

Orientierung am Leser oder am Produzenten?

Eine Flasche Champagne Krug bei einem Tasting in der Maison in Reims
Auch Champagne Krug landet bei beiden Führern ganz vorne

Damit lässt sich im Ergebnis festhalten, dass sich RVF und B+D im Verständnis von höchster Excellenz stark unterscheiden. Zwar sind beide Führer der Meinung, dass die Zahl der besten französischen Weinbauproduzenten bei etwa 1.200 liegt. Über deren Spitze sind sie allerdings verschiedener Ansicht. Dabei gibt es bei RVF eine gewisse Konstanz. Im 1999er-Guide bildeten noch 27 Produzenten die absolute Spitze, nun sind es 22. Michel Bettane und Thierry Desseauve landen nun bei 88. Es sind die gleichen Autoren, die den RVF-Guide von 1996 verantwortet haben und 2004 ihren Abgang bei der Revue du Vin de France noch damit begründet hatten, dass sie eine zu starke Popularisierung fürchteten (vgl. hier). Diese dramatische Ausweitung kann man auch bei vielen Führern aus anderen Ländern beobachten. Vielfach entspricht ihr eine Inflation bei den Punktebewertungen einzelner Weine.

Autoren und Herausgeber begründen dies mit der besseren Qualifikation der Winzer und Fortschritten in Weinbau und Kellertechnik. Dabei liegt nahe, dass diese Praxis auch der Marktpositionierung in Zeiten einer dramatischen Situation auf dem Buchmarkt dienen soll. Mehr Spitzenbewertungen, mehr Aufsteiger, mehr Top-Scorings versprechen eine höhere mediale Aufmerksamkeit. Nicht von der Hand weisen lässt sich auch: Die Behauptung einer immer größeren Ausweitung der Qualitätsspitze ist vor allem produzentenfreundlich. Eine verhaltene Bewertungspolitik hat dagegen stärker die Interessen der Konsumenten im Blick. Dass RVF sich eher der letzteren und B+D eher der ersteren Politik verschrieben hat, wird auch durch den Befund untermauert, dass bei B+D Produzenten mit großen Marktanteilen tendenziell positivere Bewertungen erhalten als bei RVF. Über die Präferenz des einen oder anderen Weges darf jeder selbst entscheiden.

Der Autor Stefan Pegatzky hat sich wiederholt mit dem Thema Weinkritik und Bewertungen befasst. Erstmals in vier Folgen „Wein und Kritik“ in FINE – Das Weinmagazin zwischen 2/2014 und 1/2015. 2021 erschien im Januarheft der FINE der Artikel „Die Geschichte der Weinbewertung – und eine neue Charta für die Punktevergabe in FINE“ sowie der Beitrag „Wein & Kritik: Bottled Poetry und viele Punkte“ in: Frenzels Weinschule 3. Wiesbaden: Tre Torri 2021, S. 13−35. Zudem beschäftigt sich Stefan Pegatzky im Podcast „Doppelkopf“ des HR2 unter anderem mit diesem Thema.

© der Bilder: Buchcover sowie App „Grand Tasting“: Public Domain; Ausschnitt „Pétrus“ in „Le Classement 1999“: Archiv Stefan Pegatzky; Fotos Lafleur, Drouhin und Krug sowie Grafik Klassifizierungsklassen: Stefan Pegatzky/Time Tunnel Images

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