Im Februar 2024 war Eduardo Chadwick, Präsident der Viñedos Familia Chadwick, nach Berlin gekommen, um einen der wichtigsten Momente der chilenischen Weingeschichte zu zelebrieren – den Verkostungssieg eines seiner Weine gegen eine Phalanx französischer und italienischer Kultweine vor 20 Jahren in Berlin. Das Jubiläum des sogenannten Berlin Tastings war der Anlass eines Interviews mit Eduardo Chadwick über Entstehung und Perspektiven von Fine Wine in Chile.
SLP: Was empfinden Sie dabei, nach 20 Jahren wieder nach Berlin zu kommen?
EC: Das Berlin Tasting von 2004 war ein wichtiger Event in meinem Weinleben. Ich habe 1983 mit dem Weinbau angefangen. Dann kam eben dieses Jahr 2004. Nun schreiben wir 2024. Es war also so etwas wie die Mitte meiner Weinkarriere. Und es war einer der wichtigsten Meilensteine in meinem Leben, wenn es den Wein betrifft. In den ersten 20 Jahren ging es darum, Fine Wine bei uns in Chile überhaupt zu entwickeln. Als ich 1983 begonnen hatte, lag die Weinindustrie in Chile am Boden. Der Anfang war sehr schwierig. 1970 begann für Chile eine kommunistische Zeit. Darauf folgten der Staatsstreich und die Militärregierung. In diesen Jahren hatten wir ein sehr negatives Image. Deshalb war es sehr schwer, etwas mit einem „chilenischen Label“ zu exportieren. Infolgedessen befand sich auch der Weinsektor in seinem schlimmsten Zustand.
Dabei hat der Weinbau in Chile eine lange Geschichte …
Ja, die spanischen Konquistadoren hatten im 16. Jahrhundert Criolla-Reben, die sogenannten „Mission Grapes“, mitgebracht. Aber in den 1850ern und 1860ern kamen Chilenen nach Europa und insbesondere Bordeaux, und sie brachten Rebstöcke von dort mit nach Hause. Das war der Beginn der Fine-Wine-Produktion in Chile, auf der Grundlage von Reben aus dem Bordelais. Die Pioniere der chilenischen Weinindustrie waren meine Familie und ein paar andere. Mein Großvater Don Maximiano Errázuriz gründete das Weingut Viña Errázuriz 1870. In diesen frühen Tagen war der Weinkonsum in Chile sehr hoch. Weil Wein oft das einzige verfügbare Getränk war, betrug der Jahreskonsum Ende des 19. Jahrhunderts gut 80 Liter pro Kopf . Das führte zum Problem des Alkoholismus, weshalb mehrere Regierungen stark gegen den Weinkonsum angingen. Chile hatte nie eine Prohibition des Konsums, aber wir hatten einer Prohibition neuer Anpflanzungen und sehr hohe Steuern. So ging es mit der ganzen Industrie allmählich bergab bis zum Kollaps in den 1970ern.
Aufwärts ging es erst gut zehn Jahre später?
Unsere Familie hatte unterdessen Viña Errázuriz verloren. 1983 kaufte mein Vater Alfonso Chadwick Errázuriz das Weingut von den Banken zurück, um es wiederzueröffnen. Damals waren überall Spinnweben, es gab nur eine uralte Ausrüstung wie hundertjährige Fässer aus Rauli-Holz. Zu der Zeit wurde der Wein erzeugt wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ich sollte das Weingut leiten, und es war die erste Herausforderung meiner Karriere: die besten Standorte für Weinberge zu erschließen, sie neu zu bepflanzen und schließlich Fine Wine zu produzieren. Mein Vater hatte eine Vision, also sandte er mich nach Bordeaux. Dort hatte ich Kurzlehrgänge an der Universität, das heißt, ich bin heute kein voll ausgebildeter Winemacher. Aber ich traf Émile Peynaud, den Verfasser des Standardwerks „Le Goût du vin“ und besuchte die Top-Châteaux. Dann kam ich nach Chile zurück und bemerkte, dass zwischen Bordeaux und Chile hinsichtlich Fine Wine ein enormer Abstand bestand.
Diesen Abstand zu schließen habe ich die die nächsten 20 Jahre gewidmet. Weinberge entwickeln, ein Team von Kellermeistern und Weinbauern ausbilden … Damals gab es kein Wissen mehr. Der Wein wurde nur für den lokalen Konsum produziert und die Exportrate in den 1980er-Jahren – ausschließlich an südamerikanische Nachbarn – betrug 1 Prozent. Heraufordernd war auch, der Welt ein zweites Gesicht des chilenischen Weins zu präsentieren und damit Aufmerksamkeit zu erregen. Seinerzeit wurde der chilenische Weinbau von großen Konzernen dominiert, die einfache, erschwingliche Weine mit gutem Preis-Leistungs-Verhältnis produzierten. So war es schwierig, die Botschaft zu platzieren, dass Chile auch Fine Wine produzieren kann. Das Berlin Tasting entstand aus der Frustration heraus, dass ich zuvor die ganze Welt bereist hatte, um unsere Top-Weine zu promoten. Aber alle waren voller Zweifel wegen des Potenzials. Damals kamen auch keine Kritiker nach Chile, um sich die Situation vor Ort anzusehen.
Sie haben dann schon 1995 ihren ersten Ultra-Premium Wein produziert, den Seña. Also müssen sie schon sehr früh einen Plan gehabt haben.
Nun, wir hatten immerhin eine Tradition. 1983 hatten wir das Weingut eröffnet, um Don Maximiano, den Gründer zu ehren. Das war der erste Wein im Fine-Wine-Markt, von einer Lage um das Weingut herum. Das war mein erster Flagship-Wein. Er kam auch sehr gut an. Aber wir glaubten daran, dass Chile mit den ganz großen Weinen der Welt konkurrieren kann. 1989 wurde Chile wieder eine Demokratie. Das war ein ganz wichtiger Schritt, ein Meilenstein, um in Europa mehr willkommen geheißen zu werden. In dem Jahr kamen die ersten Master of Wine, Hugh Johnson, Jancis Robinson und andere Kritiker. Von nun an wurde jährlich über die Fortschritte aus Chile berichtet.
1991 besuchte uns dann Robert Mondavi und 1995 begannen wir mit dem Seña-Projekt. Das war ein bedeutend, nicht nur für uns, sondern auch für Chile. Bob erinnerte sich daran, wie wichtig Opus One war, um das Image des Napa Valley zu verbessern. Deshalb wollte er einen analogen Joint-Venture-Wein, um die Wahrnehmung von Chile zu verbessern. Aus diesem Grund der Name Seña, also Signal. Um der Welt zu sagen, dass Chile in der Lage war, Weltklasseweine zu produzieren. Aber letztlich reichte das immer noch nicht. Robert Parker etwa kam nicht nach Chile, in seiner Enzyklopädie „Wines of the World“ stand Chile nicht mal im Index. Bei Verkostungen in Asien fragten mich Agenten: Was ist das Parker-Rating des Weins? Das war peinlich, denn wir hatten keine Ratings.
Und dann kam eine Verkostung in Berlin …
Das Berlin Tasting war eine Antwort auf diese Frustration. Chilenische Label wurden entweder niedriger bewertet, als es ihrem Rang entsprach, oder überhaupt nicht. Die Idee kam von der PR-Agentin Dorli Muhr und Lenz M. Moser, dem Vertriebschef von Robert-Mondavi Europe. Lass uns uns so präsentieren, dass es keine negativen Erwartungen gibt. Das heißt: gemeinsam mit den besten Bordeaux, den Top-Italienern … Wir hatten eine Absicht, eine Vision. Wir gehörten einfach in die Gesellschaft der besten Weine der Welt. Zu Beginn der Organisation, beim Brainstorming, fragten wir uns zunächst: Wie gewinnen wir die Aufmerksamkeit des Publikums auf eine bescheidene und unaufdringliche Art und Weise? Indem man das Publikum auffordert, zu kosten und ein Urteil zu fällen. Wir waren unsicher hinsichtlich des europäischen Geschmacks, was würde dabei herauskommen? Andererseits riskierten wir nicht viel. Wir verglichen uns ja mit den Weinen von Lafite, Margaux oder Latour aus einem großen Jahrgang.
Wir hatten uns überhaupt nicht ausgemalt, was dann passierte. [Zum Resultat hier.] Das war nicht der Plan und nicht das Marketing. Nur das Schicksal. Und es war ein Augenöffner für die Weinpresse. Die nächsten zehn Jahre habe ich vor allem damit zugebracht, diese Botschaft zu verbreiten. Und ich bin zehn Jahre um die Welt gereist und habe 22 Verkostungen in den Weinmetropolen der Welt abgehalten. Und überraschenderweise gab es eine enorme Beständigkeit. Wir wählten die Jahrgänge 2000/2001, 2000 war in Bordeaux mit 100 Punkten bewertet worden, die Benchmarks eben. Dann haben wir uns für 2005 als Referenz entschieden. Aber die Konsistenz war großartig. In mehr als 90 Prozent der Fälle hatten wir einen oder zwei Weine in den Top 3. Diese Konsistenz in der Wahrnehmung chilenischer Top-Weine war die Botschaft! Dann haben wir das Finetuning unseres Winemakings fortgesetzt. Nicht nur mit Cabernet-betonten Weinen, auch mit Chardonnay, Pinot Noir und Syrah. Es war also eine lange Reise. Und diese Berliner Verkostung war ein sehr wichtiger Meilenstein auf dieser Reise.
Aber das Berlin Tasting wurde ja von Steven Spurrier geleitet. Er wird doch gewusst haben, wie stark die chilenischen Weine sind? So wie er beim Paris Tasting von 1976 die Stärken der Kalifornier kannte.
Lassen Sie mich eine kleine Geschichte erzählen. Dorli [Muhr] hatte Steven eingeladen. Ich kannte ihn lediglich als Chef von „Decanter“. Ich hatte natürlich viel Respekt, schließlich entstammte er einer ganz anderen Welt. Und dann kam ich von London kommend in Berlin-Tegel an und wollte ein Taxi nehmen, und er und seine Frau Bella waren mit dem gleichen Flug gelandet und brauchten ebenfalls eins. Also haben wir uns ein Taxi zum Ritz-Carlton geteilt. Ich setzte mich dann auf den Vordersitz, drehte mich um und fragte: „Wie wollen Sie an die Verkostung herangehen? Was ist ihr Konzept?“ Daraufhin schaute er mich groß an: „Was meinen Sie? Ich dachte, ich bin eingeladen, um einfach an der Verkostung teilzunehmen.“ Er wusste nicht, dass er der Mann war, der die Verkostung moderieren sollte. Er hat es locker wie ein Gentleman aufgenommen und natürlich super hinbekommen.
Wer und was hat Ihre Ideen des Weinmachens in ihren frühen Jahren beeinflusst?
Da muss ich sicher Paul Pontallier nennen. Mein erster Weingutsbesuch in Bordeaux war auf Château Margaux. Pontallier hatte seinen Militärdienst als Professor in Chile verbracht und deswegen war ich mit ihm zuvor schon zusammengetroffen. Er war ein Freund Chiles, und so war er meine erste Wahl in Frankreich. Dazu war er eine unglaublich freundliche Persönlichkeit, ich habe ihn jedes Mal besucht, wenn ich in Bordeaux war. Er ist ein enger Freund geworden. Darüber hinaus: Ich liebe Margaux, so pur, so elegant, so frisch.
Aber wir machen unseren Wein mit einer eigenen Identität, keinen Bordeaux, keinen Napa, es ist ein chilenischer Wein, mit einer Identität von Aconcagua. Wir haben ja zunächst mit 100 Prozent Cabernet Sauvignon gearbeitet, dann haben wir begonnen etwas Carmenere hineinzublenden. Das ist echtes Chile. Carmenere neigt ja zum Verrieseln und gibt niedrigen Ertrag. Vor allem benötigt er eine konstant sonnige Umgebung. In seiner Heimat in Bordeaux wurde er nach der Phylloxera nie wieder angepflanzt. In Chile hat er eine trockenere, sonnigere Saison. Hier wird er reif, wenn man wartet. Auch im Seña ist er Teil des Blends, um ihn wirklich chilenisch zu machen. Das war unser Antrieb: einen einzigartigen chilenischen Stil zu kreieren.
Ihr Einstieg 1983 fällt auch mit der Zeit zusammen, in der Robert Parker Karriere machte. Nicht zuletzt durch seinen Einfluss haben sich spätestens seit den 1990er-Jahre die Weine weltweit verändert.
In den Neunzigern hat sich viel verändert. Alles wurde durch die Parkerisierung beeinflusst. 100 Prozent neues Holz, der Reifegrad stieg an … Das dauerte etwa bis 2010. Ich kann mich noch erinnern, als Michel Rolland nach Chile kam und vor der Presse verkündete: Alle chilenischen Cabernets sind grün! Wow! Es gab tatsächlich grüne Tannine, aber das Problem lag woanders. Wir hatten in den Weinbergen vielfach gemischten Satz stehen, von dem wir annahmen, dass es Merlot und Cabernet Sauvignon war. Der Merlot wurde wie üblich zwei Wochen früher geerntet. Aber erst 1994 hat ihn der französische Ampelograf Jean-Michel Boursiquot als Carmenere identifiziert. Seit diesem Zeitpunkt wird Carmenere separat selektioniert und reinsortige Carmenere -Parzellen angebaut, die dann ausreifen dürfen.
Aber natürlich gingen einige Winzer auch in Richtung hohe Reife, hin zum „Big Napa“-Style. Wir dagegen suchen seit 2010 vor allem Finesse. Heute gibt es eigentlich zwei Ansätze. Einmal im Sinne von Michel Rolland hedonistische und kraftvolle Weine. Und das andere Lager sucht Finesse, Eleganz, Frische. Das wird von der Kritik in den USA nicht so sehr geschätzt, eher in Großbritannien und Japan. Aber heute gibt es eine größere Diversität der Gaumen. Kurz gesagt sind wir eher auf der Linie von Château Cheval Blanc als auf der von Château Pavie.
Lassen Sie uns noch einmal über die Zusammenarbeit mit Robert Mondavi sprechen …
Als er 1991 zum ersten Mal nach Chile kam, war ich gebeten worden, sein Führer durch das Land zu sein. So sind er, seine Frau Margit und ich eine Woche durch Chile gereist. Und er war sehr begeistert von dem enormen Potenzial, was er sah. Er wollte dann in Chile ein Joint Venture machen, so wie er es mit der Rothschild-Familie in Napa gemacht hat. Aber dann ging sein Unternehmen 1993 an die Börse, und er hatte zunächst andere Probleme. Erst zwei Jahre später kam er dann wieder nach Chile und ich reiste nach Napa. Damals haben wir Seña beschlossen. Für mich wurde ein Traum wahr , mit so einem Mann und seiner Familie die Kräfte zu bündeln. Mein eigentlicher Partner wurde dann Sohn Tim, der für Winemaking und Weinbergsbewirtschaftung zuständig war. Der andere Sohn Michael kümmerte sich um die wirtschaftliche Seite.
Tim und ich haben viel diskutiert, was wir tun sollten. Von Anfang an sollten die beiden Trauben Cabernet Sauvignon und Carmenere im Blend sein. Aber wo sollten wir die Weinberge anlegen? Wie haben viele Muster probiert und Tim wollte unbedingt das Projekt in Aconcagua realisieren wegen seiner Ähnlichkeit zu Oakville. Das „Scouting“ der richtigen Lagen kostete und zwei, drei Jahre. Tim war damals bereits sehr auf Fine Wine konzentriert, aber er wurde von der Weinpresse kritisiert, weil er nicht dem klassischen „Napa Style“ folgte. Tatsächlich gingen wir zum kühlsten Ort in der Nähe der Küste, eine richtige Grenzlage. Überquert man den Hügel, ist es bereits eine Region für Chardonnay und Pinot Noir. Dort gab es Finesse und seidige Tannine, aber keine Wucht. Es war das Gegenbild zum Beispiel zum Colchagua Valley, das für seine mächtigen, kraftvollen Weine bekannt ist. Der erste Jahrgang 1995 wurde dann sehr erfolgreich eingeführt. Es gab nicht sehr hohe Bewertungen, aber immerhin auch 91 Punkte, das höchste Rating eines chilenischen Weines bis dato. Aber erst das Berlin Tasting hat uns dann wirklich Aufmerksamkeit verschafft.
Im Jahr 2004, in dem das Berlin Tasting stattfand, kauften sie die Anteile von Mondavi. Auch mit ihrem neuen Weinmacher Francisco Baettig begann eine neue Ära auf ihrem Weingut.
Am Seña haben zunächst von unserer Seite der Kalifornier Ed Flaherty und auf der Mondavi-Seite Tim und Tony Coltrane, später auch Genevieve Janssens gearbeitet. Francisco wurde in Chile ausgebildet, ging dann nach Bordeaux und arbeitete für Michel Rolland auf Bon Pasteur. Schließlich kam er als Assistant Winemaker zu Casa Lapostolle, wo Rolland Berater war. Zu Beginn hatte er also auch diese „big mentality“. Aber wir haben uns damals schon damit beschäftigt, wie wir unsere Weine verfeinern. Wir reisten ins Burgund, suchten andere Berater. Seit gut 15 Jahren war unser Antrieb, Weine mit mehr Delikatesse und einen Sinn für das Terroir zu erzeugen. Letztes Jahr haben wir dann Emily Faulconer die Stelle als Assistant Winemaker an der Seite von Francisco Baettig angeboten. Sie hatte bereits einige Jahre für uns gearbeitet, ging dann zu einem größeren Weingut und kam wieder zu uns zurück. Sie wurde dann darauf vorbereitet, Franciscos Nachfolger zu werden.
Zusammen mit einem starken Team werden wir unseren Weg des nachhaltigen, regenerativen Weinbaus fortsetzen. Was den Stil unserer Weine betrifft, so würde ich sagen, dass die letzten fünf Jahrgänge das widerspiegeln, was wir für den besten Ausdruck unseres Terroirs halten. Zwischen 2005 und 2010 haben wir Ende April, Anfang Mai geerntet, die Weine hatten um 14,5 % Alkohol und viel Kraft. Seit 2010 sind wir schlanker geworden: weniger neues Holz, größere Fuderfäßer, eine etwas frühere Ernte. Das hat mehr Frucht, mehr Intensität und balanciertere Weine mit mehr Frische gebracht. Das heißt nicht, dass wir grüne Tannine haben, wir erreichen die volle phenolische Reife, aber das ist ein schmaler Grad. Aber innerhalb der chilenischen Landschaft sind wir am anderen Ende des Spektrums.
Heute leidet der chilenische Weinbau vor allem unter Trockenheit. Viele Weingüter zieht es in den kühlen Süden des Landes. Wird es in 50 Jahren noch Seña geben?
Die Wasserversorgung ist ein Schlüsselthema des Klimawandels. Wir haben Wasserreservoire und Speicherbrunnen angelegt. Früher kam das Wasser über Kanäle, aus der gleichen Jahreszeit. Heute sammeln wir das Wasser aus dem Winter in den Reservoirs und können es dann während des Jahres verteilen. Aber auch wir haben uns bewegt. In Chile gibt es zwei Wege, um in Regionen mit kühleren Temperaturen zu kommen. Man kann in den Süden gehen, wo es auch mehr Regen gibt, oder in Richtung Pazifikküste. Seña liegt schon sehr kühl. Der Aconcagua-Gipfel [der höchste Berg der westlichen Hemisphäre, SLP] liegt fast 7.000 Meter hoch, aber dazu kommen die Küstenberge. Seña haben wir an der Ostgrenze dieser Berge platziert, mit Morgensonne und Wasserzufluss aus den Bergen. Noch kühler ist unser Weingut Aconcagua Costa, zehn Kilometer vom Meer entfernt, und hier haben wir ein Wasserreservoir, sodass wir das ganze Jahr bewässern können.
Ich denke, dass wir ausreichend Wasser für die nächsten 20, 30 und sogar 50 Jahre haben werden. Die andere Option ist tatsächlich, in den Süden zu gehen. Aber wir haben uns für die Küste entschlossen sowie dort die Wasserinfrastruktur auszubauen und biologisch zu wirtschaften, um Wasser zu sparen. Wir haben etwa einen gewaltigen Damm von 15 Hektar Fläche gebaut. Auch ich sehe natürlich Gründe dafür, schließlich doch in den Süden zu gehen. Das sollen eines Tages meine Töchter entscheiden. Aber es geht auch um das einzigartige Terroir. Kiesböden wie in Maipo Alto werden wir in Patagonien nicht finden. In Aconcagua Costa wächst unser Chardonnay auf Schieferböden. Wir haben unsere Standorte wegen der wirklich interessanten Bodenprofile, des Wetters und der Infrastruktur für eine ausreichende Wasserversorgung ausgewählt. Das kann man nicht einfach woanders hin verlagern.
Der chilenische Weinbau steht derzeit vor vielen Herausforderungen. Wie erleben Sie die Situation?
Wir erleben derzeit viele Veränderungen. Im Weinbau, in der Kellertechnik. Vor 20 Jahren waren wir auf der Suche nach mehr Sonne. Heute minimieren wir die Sonnenexposition und arbeiten mit Laubwandmanagement. Kommerziell war es ein sehr hartes Jahr. Wir haben noch nie erlebt, dass sich die ganze Welt in der Rezession befand und der Markt vergleichbare Schwierigkeiten hatte. Heute musst du als Weingut sehr genau wissen, wo du hinwillst. Es gibt nicht viel Raum für jemanden, der alles machen will, man muss sich fokussieren. Wir sind ein Familienweingut und verarbeiten nur eigene Trauben. Wir exportieren mehr als 85 Prozent unserer Produktion. Die vier großen Konzerne, die den chilenischen Weinsektor dominieren, leben von ihrer Effizienz und ihrer Masse. Unsere Rolle und unsere Zukunft sehe ich im Fine Wine. Wir wollen Weine produzieren, die ihren Platz unter den Spitzenweinen der Welt haben.
Um uns im Handel richtig zu positionieren, sind wir vor gut zehn Jahren an den Place de Bordeaux gegangen. Damals wurde dort noch debattiert, ob der Handel von Nicht-Bordeaux-Weinen hier überhaupt erlaubt sei. Glücklicherweise haben die Négociants über die Château-Besitzer gesiegt. Vor zehn Jahren habe ich mit einem Händler begonnen. Heute haben wir mehr als 20, und sie vertreiben unsere Weine in die Fine Wine Shops der ganzen Welt. Wir haben große Erfolge in China, Japan, Großbritannien. Leider nicht so sehr in Deutschland, wo es Neue-Welt-Weine schwer haben. Wir müssen uns immer stärker auf die Schlüsselmärkte fokussieren und uns mit Verkostungen und Meisterklassen an die die entscheidenden Händler und Sammler wenden. Es ist eine herausfordernde Situation, aber wir haben unverwechselbare Weine und eine einzigartige Geschichte, die wir erzählen können. Im letzten Jahr haben wir die 12.000 Weine des Viñedo Chadwick, immerhin der teuerste Wein Chiles, innerhalb von 24 Stunden verkauft.
Auch die politische Situation in Chile ist derzeit unbeständig. Fürchten Sie neue Handelsbeschränkungen, wie sie in Argentinien drohen?
Chile ist stabiler als Argentinien. Nach den Erfahrungen in der Vergangenheit hat das Land, denke ich, verstanden, dass es kein Entweder-oder gibt. Es wird seinen Weg zwischen rechten und linken Extremen finden. Dazu haben wir starke politische Institutionen wie das Parlament. Chile ist das stabilste Land in Südamerika geworden, mit einem Pro-Kopf-Einkommen von umgerechnet gut 20.000 US-Dollar. Natürlich muss vieles verbessert werden, Erziehung, Gesundheitsversorgung, Sozialfürsorge, aber dafür müssen wir nicht die Verfassung ändern. Ich bin optimistisch, dass es keine dramatischen Veränderungen wie in Argentinien geben wird. Ich hoffe, dass wir weiterhin eine soziale Wirtschaft aufbauen, die sich um die wichtigsten Probleme des Landes kümmert. Dazu gehört der Export. Der ist für Chile, anders als für Argentinien, essentiell. Export, ob Obst, Lachs oder Wein, treibt unsere Wirtschaft an.
Heute sind alle Ihre vier Töchter in ihr Unternehmen involviert?
Drei von ihnen … Magui arbeitet seit zehn Jahren mit mir und leitet heute unser Marketing. Pepa arbeitet im Verkauf in London und betreut den Fine-Wine-Handel. Alexandra, die jüngste, hat jetzt in der Kommunikationsabteilung angefangen. Meine vierte Tochter arbeitet in der Mode. Wir haben heute ein sehr starkes Team in allen Bereichen. Nun, da mit meiner Nachfolge alles geregelt ist, kann ich in den Ruhestand gehen.
[Das Gespräch fand in Englisch statt und wurde vor der Veröffentlichung ins Deutsche übersetzt.]
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Alle Fotos: Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images