Der erste Kochbuchautor
Was unterscheidet die Kochkunst vom einfachen guten Essen? Oder vom zur Schau gestellten Luxus? Sicherlich lebt sie von der Vielfalt guter, teilweise rarer Zutaten. Das setzt eine entwickelte Landwirtschaft und Handelsbeziehungen voraus. Sie benötigt einen Stand der Berufsausbildung und Spezialisierung, der erst in entwickelten, hierarchisch organisierten Gesellschaften erreicht wird. In frühen Kulturen bedeutete das, dass das Kochen nicht mehr von Frauen zu Hause, sondern von Männern an den Höfen der Mächtigen ausgeübt wurde. Es bedeutet, dass Essen nicht mehr nur mit Nützlichkeit, Gesundheit, religiösen Riten oder der Verbundenheit zu sozialen Codes verbunden wurde, sondern auch mit Freude und Genuss. Und dass schließlich Kochen Teil einer Öffentlichkeit von Genießern wurde, die das Dargebotene kritisch bewerten konnte.
So kommt es, dass der erste namentlich bekannte Koch nicht aus den ersten Hochkulturen im Nahen Osten oder aus Ägypten stammt, sondern dem antiken Griechenland, einer Gesellschaft, die auch Demokratie und Philosophie erschaffen hatte. Doch so sehr dort Kunst und Kultur, Politik und Geistesleben im 5. und 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in Blüte standen, so schlechte Voraussetzungen gab es hier für die Kochkunst. Das griechische Kernland nämlich hatte im Laufe eines Jahrhunderts zuerst die Perserkriege und dann den Peloponnesischen Krieg durchstanden. Und es besaß nur einen kargen Boden, auf dem nur wenig Landwirtschaft gedieh.
Sizilianisches Schlaraffenland Sybaris
Die blühte stattdessen in den Kolonien im Westen, in Sizilien und an der Küste Kalabriens. Das dortige Sybaris galt als eine Art Schlaraffenland. Beim Komödiendichter Metagenes heißt es, der benachbarte Fluss schiebe „eine Woge von Käsekuchen und Fleisch und gekochten Rochen auf uns zu, während die kleineren Zuflüsse mit gebackenem Tintenfisch, mit Meerbrassen und Panzerkrebsen dahinfließen.“ Es herrschte eine Pracht, wie man sie ansonsten nur von den Despotien im Osten kannte. Der Geschichtsschreiber Herodot berichtet von einem gewissen Smindyrides, der sich mit dem größten Luxus umgab, den die Welt je gesehen hätte, und der sich auf seinen Reisen von tausend Köchen und Vogelfängern begleiten ließ. Kein Wunder, dass der Lebensstil der „Sybariten“ im antiken Griechenland schließlich sprichwörtlich wurde und heute als Synonym für Völlerei und Genusssucht gilt – wobei man nicht vergessen darf, dass aus Sybaris so elementare Kulturleistungen wie die Badewanne, der Nachttopf und die gesetzliche Regelung des Lärmschutzes stammen.
Aber erst hundert Jahre später wird ganz in der Nähe, im sizilischen Syrakus, die Opsartytik, die Kochkunst, auch theoretisch begründet. Es gibt darüber nur wenige Zeugnisse: eine Nennung und eine Anspielung eines Zeitgenossen, des Philosophen Platon, drei Fragmente im „Gelehrtenmahl“ des späteren Schriftstellers Athenaios und wenige versprengte Zeugnisse mehr. Und doch reichen diese Spuren, um uns eine einigermaßen fest umrissene Vorstellung zu geben. So nennt der Athener Platon in seinem sokratischen Dialog „Gorgias“ den Mithaikos, den Autor der „Sizilianischen Kochkunst“, als jemanden, der sich exemplarisch der Versorgung des Leibes widmet.
In den Augen von Sokrates ist das keine allzu herausragende Leistung – aber allein die Nennung an einer so prominenten Stelle lässt den Schluss zu, dass Mithaikos – als erster Kochbuchautor, von dem wir Kenntnis haben – in seiner Zeit ziemlich populär gewesen sein muss. Aus diesem Kochbuch wird dann Athenaois noch viele Jahrhunderte später zitieren – darunter das älteste Rezept, das wir einer konkreten Person zuordnen können. Weitere hundert Jahre später wird der Redner Maximus von Tyrus schreiben, dass für die Griechen Mithaikos auf dem Gebiet der Kochkunst das gleiche geleistet habe wie der Bildhauer Phidias für die Skulptur.
Zwischen Sparta und Athen
Zu seinen Lebzeiten war Mithaikos freilich mehr als umstritten. Nach einer Anekdote eben jenes Maximus von Tyrus soll der Koch eines Tages auch in seine ursprüngliche Heimat Sparta gekommen sein, um dort seine Kunst auszuüben – und wurde sogleich wieder ausgewiesen, weil dort die Körper „für Schmeicheleien unempfindlich seien“ und man Köche so wenig benötige wie in einem Löwenrudel. Die Kost der dortigen Kriegergesellschaft war sprichwörtlich „spartanisch“. Die Hauptmahlzeit bestand neben einfachem Gerstenbrot in der legendären „schwarzen Brühe“ aus Schweinefleisch, das in Blut gekocht und mit Essig und Salz gewürzt war. Es hieß, dass die Soldaten vor jeder Schlacht rohe Zwiebeln äßen, um den Adrenalinspiegel zu erhöhen.
Aber selbst das klassische Athen war alles andere als eine gastronomische Oase. Sittenstrenge und Askese bestimmten zumindest bis zum Beginn des vierten Jahrhunderts die Küche. Ein Beispiel gibt Platon in seinem „Staat“. Dort entwirft er die ideale Erziehung der Wächter der Republik: Enthaltsamkeit beim Alkohol und schlichte Speisen führten zur notwendigen Tugend, schließlich nennt schon der Urvater der griechischen Literatur, der Dichter Homer, weder Gewürze noch Süßigkeiten. Kein Wunder, dass sich Platon über „syrakusische Tische“ und die „sizilianische Mannigfaltigkeit von Speisen“ abfällig äußert – eine deutliche Spitze gegen Mithaikos.
Kaum in der Welt, steht die Kochkunst also gleich mit dem Rücken an der Wand. Niedrig geschätzt von führenden Denkern und Staatsmännern, blüht sie nicht im Zentrum der Zivilisation, sondern an der Peripherie – in der Üppigkeit der Kolonien der Magna Graecia oder Kleinasiens, unter dem Patronat politisch zweifelhafter Fürsten und Magnaten. Es wird ein langer Weg sein, der die Kochkunst ins Herz der Republik führen wird.
Der Teller: Tainia (Roter Bandfisch oder Cepola macrophthalma)
Das einzige Rezept, was wir von Mithaikos kennen, ist in den „Deipnosophistae“ (zu Deutsch: Gastmahl der Gelehrten) des Athenaios überliefert:
Tainia: ausnehmen, den Kopf entfernen, abspülen, in Scheiben schneiden; Käse und (Oliven-)Öl hinzufügen.
So kurz es ist, so viele Fragezeichen enthält es. Tainia ist ein auch heute noch häufiger Mittelmeerfisch, der in der Regel fritiert zubereitet wird. In welcher Form der Tainia bei Mithaikos vor dem Verzehr erhitzt wurde oder ob er gar roh verzehrt wurde, sagt das Rezept nicht. Zugleich eröffnet es eine bis heute bestehende Kontroverse: Die Kombination von Fisch mit Käse. Der Koch Archestratus (siehe nächstes Kapitel) wird dann einige Jahrzehnte später seine Leser davor warnen, dass Köche aus Syrakus den Fisch durch Käse verderben würden. Da Rote Bandfische zum Verzehr in Deutschland kaum verkauft werden, habe ich darauf verzichtet, das Rezept nachzukochen.
Bildrechte:
Beitragsbild: August Wilhelm Julius Ahlborn (nach Karl Friedrich Schinkel): Blick in Griechenlands Blüte (1836, Ausschnitt). Alte Nationalgalerie, Berlin: HAESsJ_MthhX5g at Google Arts & Culture
Seite aus dem „Deipnosophistae“ des Athenaeus: Sotheby’s
Macchialandschaft in Griechenland (Alt-Polyrrhenia auf Kreta): Ziegler175/Wikimedia CC 3.0
Terrakotta Fischplatte aus Kampanien (ca. 350–325 v.): The Metropolitan Museum of Art
Symposiumsszene aus einem Fresko im Grab des Tauchers (475 v.): Museum Paestum
Attische Amphore mit Darstellung der Olivenernte (520 v.): The Trustees of the British Museum
Helm eines spartanischen Kriegers (ca. 510 v.): The Trustees of the British Museum
Platonbüste aus dem Trinity College, Dublin: Erik Bolstad/Wikimedia CC 3.0
Rote Bänderfische: Stefan Pegatzky/Time Tunnel Images
Literatur:
Andrew Dalby: Siren Feasts. A history of food and gastronomy in Greece. London und New York. 1996
Andrew Dalby: Food in the ancient world from A to Z. London und New York 2003.
Shaun Hill und John Wilkins: „Mithaikos and other Greek cooks“. In: Walker Harlan: Cooks and other people. Proceedings of the Oxford Symposium on Food and Cookery 1995, S. 144−148.