SLPs Top 5 aus der Champagne auf der Raw Wine Fair Berlin 2022

Zum 7. Mal hat Ende November die Raw Wine Fair in Berlin gastiert. Geschaffen von Isabelle Legeron, MW, ist sie vor allem in der englischsprachigen Welt zwischen London, Toronto und Los Angeles zum wichtigsten Schaufenster für die nicht-konventionelle Weinkultur geworden. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war auch die Champagne wieder stark vertreten.

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Plakat der Vereinigung biologisch arbeitender Winzer

Raw, also roh oder Französisch cru, ist in der traditionellen französischen Hochkultur keine unbedingt positive Kategorie. Ungekochte Lebensmittel wie Salate oder Rohschinken gibt es im Menü nur „hors d’œuvres“, also außerhalb des eigentlichen Essens. Roh steht, nicht erst seit Lévi-Strauss, für Natur und Wildnis, das Gekochte dagegen für die Zivilisation. In diesem Sinn finden klassische Winzer die Vorstellung albern, dass die Schlingpflanze Wein von sich aus, also ohne Eingriff des Menschen, „Naturwein“ hervorbringen könne. Tatsächlich ist in kaum einer Nation die Überzeugung von der Bedeutung von Kultur so stark wie in Frankreich. Und schon immer hat unser Nachbar den Champagner, als das am schwierigsten zu produzierende Produkt aus Weintrauben, als höchsten Ausdruck dieser Zivilisation angesehen. Zwischen Schaumwein-Produzenten und einer „Raw Wine“-Messe gibt es also a priori ein Spannungsverhältnis.

Charles Bénard von Champagne Laurent Bénard
Charles Bénard von Champagne Laurent Bénard

Andererseits wurde in Frankreich auch die geistige Gegenbewegung verkündet. Jean-Jacques Rousseaus Devise „Zurück zur Natur!“ hat zahllose Jünger geschaffen – und heute ist ausgerechnet Paris das Epizentrum der europäischen Naturwein-Bewegung. Als die Raw 2015 zum ersten Mal in Berlin veranstaltet wurde, waren daher auch eine Reihe führender Champagnerwinzer wie etwa Laherte vertreten. Der Faden riss rasch, 2018 war noch ein letzter Mohikaner verblieben, danach klaffte eine unübersehbare Lücke in der Raw. Bis 2022. Unter dem Banner der Association des Champagnes Biologiques (ACB) fand diesmal gleich ein Dutzend Champagner-Winzer den Weg nach Berlin. Für die Presse gab es zudem ein hochkarätig besetztes Themenseminar über Biodiversität im Weinberg und Klimawandel in der Region.

Die Rückkehr der Champagne zur Raw Wine Fair Berlin

Pascal Doquet und Jean-Sébastien Fleury
Vordenker: Pascal Doquet (l.) und Jean-Sébastien Fleury

Welche „diplomatischen Bemühungen“ letztlich dafür verantwortlich sind, lässt sich von außen natürlich schlecht beurteilen. Sicherlich wird es damit zu tun haben, dass die Messe die weltanschauliche Schärfe der ersten Jahre − Stichwort Null-Schwefel – gemildert hat. Heute finden unter dem Dach der Raw Naturwein-Apologeten der reinen Lehre, aber auch biodynamisch sowie „lediglich“ biologisch arbeitende Winzer zusammen, sofern sie das Leitbild einer möglichst geringen Intervention im Weinbau teilen. Das ist mit Blick auf die immensen Aufgaben, vor denen der Weinbau der Zukunft steht, nur zu begrüßen.

Champagner-Winzer Jérôme Lefèvre
Kutte oder Hoodie? Mönch oder Hippster? Jérôme Lefèvre

Tatsächlich hatte die Intensivlandwirtschaft der 1970er- und 1980er-Jahre die Weinberge der Champagne in einem Ausmaß verwüstet wie in kaum einer zweiten Weinbauregion in Frankreich. Seinerzeit wurde geschredderter Plastikmüll des Großraums Paris großflächig auf die Weinberge der Champagne gestreut, um den Boden aufzulockern. Die blauen Kügelchen sieht man noch heute in vielen Weinbergen der Region.

Jean-Sébastien Fleury
Jean-Sébastien Fleury

Die „neue Champagne“, die wir heute feiern, verdankt sich zu einem Gutteil den Verfechtern einer Rückkehr zur traditionellen, vorindustriellen Landwirtschaft und einem Bekenntnis zum Schutz der ökologischen Grundlagen der Weinproduktion. Dass in diesem Jahr Pioniere wie Pascal Doquet und Jean-Sébastien Fleury sowie der junge Visionär Jérôme Lefèvre der deutschen Hauptstadtpresse Rede und Antwort standen, war daher ein starkes Statement. Eben weil es das Bekenntnis zu möglichst naturnahem Weinbau mit einem kompromisslosen Qualitätsbewusstsein verband. Nicht zuletzt stärkte das auch die Relevanz der Raw Wine Fair selbst.

Der Besucher wünscht sich freilich, dass die Besuchermassen organisatorisch gebändigt werden. In London wird die Messe auf zwei Tage aufgeteilt (Fachbesucher und normales Publikum). Wäre das auch in Berlin machbar? Der Bar Convent Berlin musste seinem Erfolg Tribut zollen und ist aus den Hallen am Gleisdreieck in die Messe Berlin umgezogen. Einen vergleichbaren Schritt muss auch die Raw gehen, so schmerzhaft der Umzug aus der Markthalle Neun auch ist. Aber letztlich geht es nicht um die Szene, sondern um die Sache.

Philippe Lancelot Cramant Grand Cru 2018 Extra Brut

Zwei Champagnerflaschen von Philippe Lancelot

Lancelot ist ein häufiger Name in Cramant. Nicht weniger als fünf Winzer füllen heute unter diesem Namen Champagner ab. Das Haus Philippe Lancelot ist der Nachfolger von Champagne Y. Lancelot-Wanner, das vom Großvater 1961 gegründet und schließlich 2008 von Enkel Philippe übernommen wurde. Dieser hatte, nach einem Weinbau- und Önologiestudium in Avize, ab 2009 eine Kooperation mit Hervé Justin begonnen, einem Vordenker der Biodynamie in der Champagne. Seit 2012 werden sämtliche Weinberge biodynamisch bewirtschaftet. Das Biosiegel AB gab es 2014. Es folgten die Zertifizierungen Demeter 2015 und Biodyvin 2020. Auf den Einsatz von Schwefel verzichtet er ebenso wie auf den von Kupfersulfat.

Abgesehen davon verfolgt Philippe Lancelot einen Mikro-Cuvée-Ansatz, um die einzelnen Terroirs seiner Parzellen in Épernay und der Côte des Blancs bestmöglich herauszuarbeiten. Das kann schon einmal Abfüllungen von gerade einmal 450 Flaschen bedeuten. Der Cramant Blanc de Blancs, eine Assemblage unterschiedlicher Parzellen aus dieser herausragenden Grand-Cru-Gemeinde, gehört mit seinen 3.024 Flaschen und 491 Magnums da schon zu den „populären“ Produkten im Portfolio. Sehr fein und dicht, mit guter Säure trotz des heißen Jahrgangs 2018 und der typischen Salzigkeit der Chardonnays von besten Lagen.

L & S Cheurlin LÉlegante Blanc de Blancs Extra Brut

Champagnerflasche von L & S Cheurlin

Auch L & S Cheurlin ist eine Neugründung aus einem bestehenden Champagner-Haus heraus, diesmal Richard Cheurlin in Celles-sur-Ource in den Côte des Bars. Hier waren es die Geschwister Lucie und Sébastien, die nach ihrer Rückkehr ins elterliche Weingut mit der biologischen Bewirtschaftung begannen und 2005 ihr eigene Haus gründeten. Mittlerweile verfügen sie über 5 Hektar AB-zertifizierte Lagen und bauen neben den klassischen Sorten Chardonnay, Pinot Noir und Pinot Meunier auch etwas Pinot Blanc an.

Chardonnay kann in der Aube recht breit ausfallen, deswegen werden oft auch Lagen in Nordexposition bestockt. Der L’Élegante von Cheurlin stammt von einer solchen Einzellage, nämlich Dalivard in Celles-sur-Ource. Eine Traubensorte, ein Jahrgang (2015) und eine Lage, das ist burgundische Winzerphilosophie. Der entspricht auch Vinifikation und Ausbau der Grundweine in Holzfässern – schließlich ist bis zur Nachbarregion nur ein Katzensprung. Das Ergebnis verblüfft. Ein sehr weiniger Champagner mit Aromen von Mirabellen und Brioche und bei aller Cremigkeit doch leichtfüßig und quicklebendig.

Pascal Doquet Le Mesnil sur Oger Grand Gru Diapason

Champagnerflaschen von PAscal Doquet

Pascal Doquet war auf sur-la-pointe.com schon im Artikel über die Top 5 der Falstaff Champagner-Gala vertreten. Üblicherweise präsentiere ich in so einem Fall ein anderes, möglichst unbekannteres Haus. Das wäre aber in diesem Fall ungerecht. Nicht nur wegen der Bedeutung von Doquet als Präsident der ACB, sondern auch wegen der Qualität der Champagner. Nicht zuletzt präsentierte das Haus die mit Abstand beste Gesamtleistung. Zwar war diesmal kein Champagner aus der Cœur-de-Terroir-Serie dabei, doch schlug sich seine klassische Linie um Horizon (Grundweine aus dem Vitryat), Arpège (Vertus und Mont-Aimé) und dem „Rosé de Saignée“ Anthocyanes ausgezeichnet.

Star war aber der Diapason, ein sogenannter Mono-Cru, also ein Champagner, dessen Grundweine aus nur einer Gemeinde stammen. In diesem Fall Mesnil-sur-Oger, für Champagnerfreaks geradezu ein Pilgerort an der Côte des Blancs, der Heimat einiger der größten Chardonnay-Champagner überhaupt. Der Diapason ist ein Blend und besteht zu etwa zwei Dritteln aus Grundweinen des Jahrgangs 2015 und einem Drittel Reserveweinen. Abgefüllt zur zweiten Gärung im April 2016 hat er gut 78 Monate Hefelager hinter sich. Den schwierigen Jahrgang 2015 bewältigt Doquet problemlos. Mit Aromen von weißen Blüten und Zitrusnoten im Bouquet zeigt sich der Diapason sehr klassisch und elegant.

Fleury Coteaux Champenois Rosé Pinot Noir

Rosé-Stillwein von Champagne Fleury

Champagne Fleury hat in mancher Hinsicht Champagner-Geschichte geschrieben. Aber es hat seinen Sitz nicht im Departement Marne, sondern in der Aube im Süden der Region. Und deren Champagner wurden bis in die jüngste Zeit nicht immer als hochklassig beurteilt. Mittlerweile ist das Geschichte, nicht zuletzt, weil die Winzer an der sogenannten Côte des Bars ausgesprochen experimentierfreudig sind. Allen voran Fleury. Inspiriert durch einen Klassiker der Umweltbewegung, Rachel Carsons „Silent Spring“, startete Jean-Pierre Fleury 1976 einen ersten Versuch mit biodynamischer Landwirtschaft, der allerdings in einer Katastrophe endete. Der nächste, diesmal erfolgreiche Anlauf, sollte erst wieder 1989 stattfinden. 1992 wurde die gesamte Fläche des Gutes biodynamisch zertifiziert – als erster Champagnerproduzent überhaupt.

Für die Raw hatte Jean-Sébastien Fleury, aus der 4. Generation der Fleurys und Sohn von Jean-Pierre, neben einigen Klassikern auch das jüngste Baby aus dem Portfolio mitgebracht. Côteaux Champenois Rosé Pinot Noir – eine ausgesprochene Spezialität und mit 1.500 Flaschen ziemlich rar. Côteaux Champenois sind Stillweine und haben eine Tradition in der Champagne, die viel älter ist als der Schaumwein. Zur Renaissance dieser Weine haben die Winzer der Aube viel beigetragen. Auch Fleury hat seit Jahren einen roten und einen weißen Stillwein im Angebot. Dass sie das Sortiment 2021 um einen Rosé-Wein erweitert haben, ist angesichts des nahen Les Riceyes, das eine eigene Appellation für Rosé-Weine besitzt, nur folgerichtig. Der Wein wurde aus einer Solera mit drei Jahrgängen ab 2017 abgefüllt. Sehr zart in der Farbe und mit einem feinen Bouquet von Sauerkirschen und Rhabarber überrascht der Wein durch guten Gripp und delikate Frische am Gaumen.

Maison Jérôme Lefèvre Playing with Fire Rosé

Flaschen von Champage Delalot sowie der Maison Jérôme Lefèvre
Playing with Fire (Mitte)

Auch der letzte Pick stammt aus einem ganz jungen Weingut, das aus einem älteren hervorgegangen ist. In diesem Fall heißt die Wurzel Élaine Delialot, die aus einer Winzerfamilie stammt und ein kleines Champagnerhaus ganz im Westen der Appellation, in Nogent-l’Artaud, besaß. Von den 1,07 Hektar Weinbergen wurden gerade einmal 8.000 Flaschen Champagner produziert. 2010 wurde der Betrieb AB-zertifiziert, 2020 übernahm der Sohn, der lange Jahre in der Kunstszene gearbeitet hatte. Er vereinfachte den Namen in Champagne Delalot und produziert seit Kurzem auch als Mikro-Négociant mit Weintrauben von Bekannten als Maison Jérôme Lefèvre.

Unter den zahllosen Neugründungen in der Champagne in den letzten Jahren ist dieses Unternehmen sicher eines der reflektiertesten und ambitioniertesten. Das beginnt bei der – philosophisch von David Thoreau bis hin zu Masanobu Fukuoka unterfütterten – radikal-puristischen Weinbergbewirtschaftung, die etwa komplett auf Maschinen verzichtet, geht über einen ziemlich zeitgemäßen Markenauftritt und mündet in ein sehr französisches Produktverständnis, das Naturweine, Luxus und Kulinarik in eins denkt. Vielleicht decken sich bei Lefèvres Champagnern Anspruch und Realität noch nicht vollständig. Aber der Rosé d’Assemblage Playing with Fire (100 % Pinot Meunier, mit Zugabe von 10 % Pinot Noir als Stillwein) zeigt schon die Richtung: saftige, aber alles andere als triviale Frucht, blasse Farbe und ein weinig-cremiges Mundgefühl.

© aller Bilder: Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images

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