Die älteste Rezeptsammlung der Welt
Die Erfindung der Gastronomie fand weder im Ägypten der ersten Pharaonen noch in der uralten chinesischen Zivilisation am Gelben Fluss oder der frühen Indus-Kultur statt. Nach allem, was wir heute wissen, ereignete sie sich im 18. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in Babylon unter König Hammurabi. Das Zeugnis, das es uns erlaubt, angesichts der Palast- und Tempelküche des Landes an Euphrat und Tigris von einer tatsächlichen „Haute Cuisine“ zu sprechen, ist tatsächlich eindrucksvoll. Mit den „Yale Culinary Tablets“ besitzen wir die älteste Rezeptsammlung der Welt. Sie ist gleichsam ein Kochbuch in Keilschrifttafeln, der wir das Vorhandensein einer voll entfalteten gastronomischen Kultur mit spezialisierten Köchen, teilweise ausgesprochenen Edelprodukten und einer Vielzahl von Zubereitungsformen entnehmen können.
Dass dies an diesem Ort und zu dieser Zeit geschah, hat verschiedenen Ursachen. Zum einen liegt Babylonien in der Region des „fruchtbaren Halbmonds“, die oft als die „Wiege der menschlichen Zivilisation“ bezeichnet wird. Hier wird der Mensch sesshaft: Er domestiziert nicht nur Pflanzen wie das Wildgetreide und ist so in der Lage, Ackerbau zu betreiben. Nach der Überjagung der örtlichen Gazellenpopulation zähmt er erstmals Wildtiere wie Hund, Schaf, Ziege, Wildschwein und Auerochse. Die „hydraulische Kultur“ der Region profitiert zudem enorm von Euphrat und Tigris. Die Flüsse liefern Trinkwasser und Proteine durch Fischfang und Muschelbänke, sie bringen Waren, Menschen, Ideen. Vor allem machen sie das umgebende Land durch periodisch wiederkehrende Überschwemmungen fruchtbar.
Die Welt als Restaurant für die Götter
Kein schlechter Anfang, doch bis die Gastronomie geboren wird, sollten in den Hochkulturen Mesopotamiens noch einmal tausend Jahre vergehen. Dann gelingt es König Hammurabi im 18. Jahrhundert v. u. Z., die verschiedenen Königreiche der Region wieder zu vereinigen. Der charismatische Herrscher, der mit dem nach ihm benannten Codex als König der Gerechtigkeit unsterblich werden sollte, macht aus der einstigen Kleinstadt Babylon die überragende Metropole des Alten Orients. Es ist eine neue Stadt für einen neuen Gott mit Namen Marduk. Ihm zu Ehren errichtet man gewaltige Tempel zu seiner Wohnstatt.
Hamurabi geht wie kein Herrscher vor ihm auf in der zentralen Rolle, die ihm seine Kultur vorschreibt: die Versorgung der Götter mit Nahrung und Getränken. Denn einem zentralen mesopotamischen Schöpfungsmythos zufolge verdankte sich die Entstehung des Menschen einzig der Notwendigkeit, die Götter mit Nahrung und Getränken zu verköstigen. Tatsächlich kommt der Name Babylon von Babili, die Gottespforte. Andres ausgedrückt: Für Marduk und seine Nebengötter war Babylon die Stammkneipe.
Die Geburt der Gastronomie
Es ist diese kultische Funktion von Essen und Trinken in Babylon, die um 1750 vor Christus zur Geburt der Gastronomie führt. Selbst wenn ein Großteil an Speisen nicht verzehrt, sondern im Ritual von der Priesterkaste in den gewaltigen Tempelanlagen geopfert wird: Im Palast des Königs, der durch seine Funktion selbst in den Kreis der Götter aufgenommen wurde, wurde kaum weniger aufwendig gekocht. Und es ist auch die kultische Funktion des Essens, die dafür gesorgt hat, dass zumindest 35 Rezepte dieser Tempel- und Palastküche Babylons auf drei Keilschrifttafeln überliefert wurden. Denn dies war Herrscher- und Priesterwissen, kein Ratgeber für lesensunkundige Köche.
Was aber wurde gekocht für Götter und Könige vor knapp 4.000 Jahren? 21 der 25 überlieferten Rezepte auf Tafel 4644 werden jedenfalls mit Fleisch zubereitet – darunter Rind, Lamm, Ziege, Schwein, Rotwild und Wildgeflügel. Vier sind vegetarisch. Oft handelt es sich um Kombinationen von Fleisch mit Gemüse und in Brühe aufgeweichtem Getreide. Fette spielen eine wichtige Rolle, fast allgegenwärtig sind Zwiebeln und ihre Verwandten Knoblauch und Lauch. Auch Salz, Kräuter und Gewürze finden Verwendung. Aus diesen und anderen Quellen wissen wir, dass auch Süß- und Salzwasserfische sowie Schildkröten verzehrt wurden. Dazu unterschiedliche Getreidesorten, Gemüse, Pilze und natürlich Obstsorten wie Äpfel, Feigen, Datteln, Trauben und Granatäpfel.
Köche und Zubereitungen vor 4.000 Jahren
Wir haben Kenntnis von etwa 20 Käsesorten, 100 Suppenvariationen und 300 Sorten Brot. Die Chefköche der damaligen Zeit beherrschten die Trocknung, das Räuchern und das Fermentieren von Lebensmitteln. Früchte wurden in Honig konserviert. Die Speisen wurden in Milch, geklärter Butter pflanzlichen Fetten wie Oliven- oder Sesamöl zubereitet. Gesüßt wurde mit Honig, Rosinen oder eingekochtem Traubensaft. Dazu gab es bei einfachen Anlässen Bier, bei wichtigen kostbaren Wein aus dem Norden.
Keiner der (ausschließlich männlichen) Köche, die „Nuhatimmu“ genannt werden und ausgesprochene Experten waren, ist uns namentlich überliefert. Allerdings nennen die Keilschriften zweimal den lokalen Ursprung von fremden Rezepten. Im Stil sind alle Rezepte, die zumeist jeweils nur zwei bis vier Zeilen umfassen äußerst nüchtern. Dessen ungeachtet ist es, wie der französische Assyrologe Jean Bottéro schreibt, „eine Küche von auffallendem Reichtum, von Verfeinerung, Raffinesse und Kunstfertigkeit. Alle Merkmale der mesopotamischen Küche weisen auf ein ernsthaftes Interesse der Gäste am Essen hin, was wir sicherlich als Gastronomie bezeichnen dürfen.“
Im Alten Orient also entsteht die „Haute Cuisine“ als Götterspeise und Göttertrank. Auf Tausende von Jahren wird sie mit dem Morgenland verbunden bleiben. Einer von Hamurabis Untertanen war aber, nach allem was wir wissen, ein Mann namens Abraham. Ihn inspirierten zwar viele Gesetzesinitiativen seines Königs, dessen Götzendienst aber wies er von sich. Die Geburt des Luxus und die Kritik an ihm haben die gleichen Wurzeln.
Der Teller: Lammeintopf
Wie in allen Folgen der Reihe „Die Geschichte der Kochkunst in 100 Tellern“ (mehr zum Projekt hier), wollen wir ein Gericht näher vorstellen. Der „Lammeintopf“ findet sich auf Tafel 4644, nach Jean Bottéro lautet die Übersetzung des Rezepts: „Es wird kein anderes Fleisch verwendet. Nehmen Sie Wasser, fügen Sie Fett, Dodder wie gewünscht, Salz nach Geschmack, Zwiebel, Samidu, Koriander, Lauch und Knoblauch, auf dem Feuer. Vom Feuer gepresstes Kisimmu hinzufügen. Schneiden Sie das Fleisch und servieren Sie es.“ Laura Kelley interpretiert Dodder als wildes Süßholz, Samidu als eine Mehlart und Kisimmu als käse- oder yoghurtähnliches Milchprodukt.
Bildrechte:
Beitragsbild: Austen Henry Layard: Artist’s impression of Assyrian palaces, from a sketch by James Fergusson. In: The Monuments of Nineveh, Vol 2, 1853. Quelle: British Museum.
Keilschrifttafel: Yale University Library, Yale Babylonian Collection.
Codex Hammurabi: Musée du Louvre, Paris, Fotograf: Rama
Gipsreliefs Bankettszene, königliche Küche sowie Soldaten: The British Museum.
Lammeintopf: Stefan Pegatzky/Time Tunnel Images
Literatur:
Jean Bottéro: The Oldest Cuisine in the World. Cooking in Mesopotamia. Chicago 2011.
Laura Kelley: Some Mesopotamian Ingredients Revealed. Auf silkroadgourmet.com 2010.
Stefan M. Maul: Bier und Wein für die Götter. In: Damals. Das Magazin für Geschichte und Kultur 7, 2008, S. 26-31.