Der falsche Weg. Anmerkungen zur deutschen Landwirtschaft

In Deutschland und Frankreich protestieren die Bauern. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wären die Probleme in beiden Ländern die gleichen: Agrardiesel, Überregulation, Umweltauflagen und unfaire Erzeugerpreise. Kein Wunder, teilen die Länder doch seit der Gemeinsamen Agrarpolitik von 1957 dieselbe europäische Marktordnung. Doch die Voraussetzungen beider Agrarkulturen könnten unterschiedlicher nicht sein.

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Die aktuellen Probleme in der deutschen Landwirtschaft sind vielfältig. Doch sie sind nicht die wirkliche Ursache der derzeitigen Proteste. Vielmehr artikuliert sich in ihnen – und deswegen ist die Situation auch so verfahren – eine Hilflosigkeit angesichts von Strukturentscheidungen, die in Deutschland schon in den 1880er-Jahren getroffen wurden. Diese waren seinerzeit nicht zuletzt eine Antwort auf die Herausforderungen der ersten Globalisierungswelle. Und sie haben zu Pfadabhängigkeiten geführt haben, die die Landwirtschaft noch heute beherrschen. Insbesondere erfolgte bereits im Kaiserreich die für Deutschland entscheidende Weichenstellung „Industrienation“ statt „Agrarstaat“. Diese bestätigten nach dem Krieg Konrad Adenauer und Ludwig Erhard. Die Gründung der Montanunion und die Errichtung der Gemeinsamen Agrarordnung, zwei der Grundpfeiler der späteren Europäischen Union, war ein Ausgleich zwischen französischen Agrar- und deutschen Industrieinteressen. Anders ausgedrückt: Schon beim Wiederaufbau war die deutsche Landwirtschaft im wahrsten Sinne ein „Bauernopfer“. Diese sollte die Zurücksetzung auch durch noch so sprudelnde Subventionen aus Brüssel niemals ganz vergessen.

Vielleicht noch bitterer aber ist wohl für den Großteil der Bauernschaft das Gefühl, einem Geschäftsmodell anzuhängen, das in mehrfacher Hinsicht „von gestern“ ist. Bei der Diskussion in Deutschland wird allerdings vergessen, dass die agrarische Primärproduktion facettenreicher ist, als es die Fixierung auf den Hackfleischpreis beim Discounter nahelegt. Dass Landwirtschaft in Europa per se eine zu niedrige Wertschöpfung erzielt und deshalb am Subventionstropf hängen muss, hat nicht die Gültigkeit von Naturkonstanten. Allerdings hat der Entwicklungspfad der deutschen Agrarwirtschaft ein Modell zementiert, aus dem so leicht kein Entrinnen ist. Dass es auch anders geht, zeigt, bei allen Problemen, Nachbarland Frankreich. Auf die Herausforderungen der agrarischen Modernisierung seit 1880 haben die beiden Länder nämlich völlig anders reagiert. Und zwar weniger aufgrund anderer geografischer oder kultureller Voraussetzungen, sondern wegen ganz anders gearteter wissenschaftstheoretischer Paradigmen. Vier Beispiele:

Agrarwirtschaft und Ökonomie

Albrecht Daniel Thaer beim Drillsäen (1804).

In Deutschland hatte Albrecht Daniel Thaer die Agrarwissenschaft aus dem Geist der Kameralistik, also der fürstlichen Buchhaltung, gegründet. Dafür musste mit der „Wirtschaft nach dem alten Schlendrian“ gebrochen werden. Thaers „Grundsätze der rationellen Landwirthschaft“ (1809−1812) sollten zeigen, „wie der möglichst hohe reine Gewinn unter allen Verhältnissen aus diesem Betrieb gezogen werden könne“. So verkündige er, der Verfasser, das „absolut vollkommenste … System“, um dem Boden den „höchste(n) Ertrag mit den verhältnismäßig geringsten Kosten (abzugewinnen)“. Erst wenig rezipiert, setzte sich dieses rein betriebswirtschaftliche Prinzip dann ab 1880 hierzulande allgemein durch. Zunächst als Intensivierung, dann als Industrialisierung der Produktion.

Der Verfasser verkündigt das abolut vollkommenste System, wodurch dem Boden der höchste Ertrag mit den verhältnismäßig geringsten Kosten abgewonnen werden könne.

Albrecht Daniel Thaer (1815)

In Frankreich hatten im 18. Jahrhundert die sogenannten „Physiokraten“ dagegen die Lehre von der Natur als Quelle allen volkswirtschaftlichen Reichtums entworfen. Sie betonten die Notwendigkeit hoher Erzeugerpreise und verwiesen auf die hohen Renditen von Luxusprodukten. Diese wurden nicht als Symptome der Dekadenz interpretiert, sondern als Weg zu gesellschaftlichem Wohlstand. Tatsächlich sind heute zahllose Weinbauern in der Champagne oder der burgundischen Côte d’Or Millionäre. Wenn man so will, ein Spiegelbild zum sprichtwörtlichen Reichtum schwäbischer Facharbeiter, die „beim Daimler schaffe“.

Ernährungswissenschaft und Kulinarik

Insbesondere durch Justus von Liebig hielt das Stoff-Paradigma Einzug in Physiologie und Agrarwissenschaft. Das hatte fundamentalen Einfluss etwa auf Düngung und Tierfütterung, aber auch auf unser Verständnis von Nahrung. Durch Liebigs Schüler in der sogenannten Münchner Schule wie Carl von Voit bestimmten in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts neben dem kalorischen Wert wesentlich Stoffkonglomerate wie Proteine, Kohlenhydrate, Fette und später auch Vitamine und Ballaststoffe den Blick. Essen, Ernährung und Lebensmittel wurden zunehmen substantialisiert und entkontextualisiert (Uwe Spiekerman). Dies führte gerade hierzulande zu einer Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie, in der sich Qualität bis heute als normierter, zertifizierter Produktionsprozess sozusagen von selbst ergibt, wenn nur die gewünschten Stoffe optimal (hygienisch, preiswert, haltbar) zur Verfügung gestellt werden.

Respirationsapparat von Pettenkofer und von Voit um 1860. Er diente der energetischen Bewertung von Nahrung sowie bei der Ermittlung des Energiebedarfs von Lebenwesen.

Frankreich kennt daneben auch einen völlig anderen Qualitätsbegriff von Lebensmitteln. Zunächst entwickelte im 17. Jahrhundert der Agronom Nicolas de Bonnefons in Versailles die Kategorie des „Eigengeschmacks der Dinge“, also die Idee von einer intrinsischen, insbesondere sensorischen Qualität von Produkten. Sie ist bis heute die eigentliche „Entwicklungsachse“ der französischen Kulinarik (Jean-Pierre Poulain). Deren Kern bilden im ganzen Land enge, sich immer wieder neu befruchtende Versorgungsnetze zwischen Spitzenköchen und den Erzeugern erstklassiger landwirtschaftlicher Produkte  Daraus entstand in unserem Nachbarland ein Begriff von Qualität, der nicht auf chemisch-stofflichen Inhalten, sondern auf kulturellen Zuschreibungen, genauer: einer „geohistorischen Konstruktion“ (Vincent Marcilhac) beruht. Diese verdankt sich dem Wissen um die Exzellenz eines in der Tradition gegründeten „savoir-faire local“.

Geografie

Agrargeografie und Raumordnung wurden in Deutschland geprägt durch die Lebensraum-Konzeption des führenden deutschen Geografen des 19. Jahrhunderts, Friedrich Ratzel: Je „weiter“ der Raum, desto intensiver die Entwicklung! Ratzels Schriften wurden von Adolf Hitler während seines Landsberger Gefängnisaufenthalts „mit heiliger Glut gelesen“ und inspirierten Carl Schmitt zu seinem Großraumprinzip. Diese Ordnungsvorstellungen standen Pate bei der „Flurbereinigung“ der jungen BRD, exekutiert etwa von Staatssekretär Rudolf Hüttebräuker, im Dritten Reich „landwirtschaftlicher Sonderführer“ in der Ukraine, der „die Machbarkeitsphantasien und Gestaltungsvorstellungen der deutschen Besatzer im zweiten Weltkrieg mit in die Bundesrepublik nahm“ (Friedrich Kießling). Es waren ideologische Vorprägungen, die sich nahtlos an das Credo„Wachse oder weiche“ des niederländischen EWG-Kommissars Sicco Mansholt anschlossen, dem Architekten der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik. Dies führte zur Betriebsaufgabe vieler Kleinbauern und der Dominanz der Großbetriebe.

„Carte gastronomique de la France“ von A. Bourguignon (1929)

Die französische Landwirtschaft verfolgte dagegen im späten 19. Jahrhundert im Anschluss an den Geografen Paul Vidal de la Blache eine dezidierte Regionalisierungsstrategie. Vidal war seit 1880 in Frankreich die alles dominierende Figur der geografischen Wissenschaft geworden und hatte 1903 das monumentale „Tableau de la géographie de la France“ vorgestellt, das noch heute in den Schulwandkarten der französischen Grundschulen fortlebt. Parallel wurde Vidal eine der prominentesten Stimmen der Dezentralisierung in Frankreich und forderte vehement „La rénovation de la vie régionale“. Sein Erbe floss dann in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in das System der „Appellation d’Origine controllée“, der „kontrollierten Herkunftsbezeichnung“, das herausragende landwirtschaftliche Erzeugnisse unterschiedlichster Terroirs schützte. Als AOP-Siegel 1992 europäisch harmonisiert, tragen heute 593 französische Produkte vom Camembert bis zur Sandmöhre eine geschützte geografische Herkunftsangabe, in Deutschland lediglich 31.

Tierzüchtung

Kombinationen des Keimplasmas bei Bastardbildung. Aus: August Weismann: Das Keimplasma (1892).

In Deutschland wurde durch den Neo-Darwinisten August Weismann − „die DNA ist unser Schicksal“ − die angewandte Genetik Ende des 19. Jahrhunderts zur Leitwissenschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte dies zu einer drastischen Standardisierung und einer mehr als grenzwertigen Tierkörper-Optimierung. Weltweit setzte sich in den jeweiligen Teilbereichen der Landwirtschaft nur eine Handvoll hoch gezüchteter Klone und Hybridrassen durch. Diese waren durch perfekt realisierte Zuchtziele gekennzeichnet und erreichten ihr Leistungsoptimum in normierten Umgebungen wie intensiver Stallhaltung und plantagenartigen Monokulturen.

Frankreichs Biologie um die vorletzte Jahrhundertwende war dagegen „neo-lamarckianisch“ geprägt. Die Vorstellung von der „Vererbung erworbener Eigenschaften“ übte bei unseren Nachbarn eine mächtige Wirkung aus, weil sie eine zentrale Rolle der jeweiligen Umwelt, des „Terroirs“, für die Entwicklung von Tieren und Pflanzen postulierte. Das machte die große Vielfalt regional geprägter Nutztierrassen und -pflanzen in Frankreich sinnvoll. Die Neo-Darwinisten setzten sich bekanntlich zunächst durch, mit erheblichen Folgen für die Biodiversität auch links des Rheins. Allerdings hat in jüngster Zeit die sogenannte Epigenetik die Existenz eines zweiten genetischen Codes nachgewiesen, der in hohem Maße für Umwelteinflüsse anfällig ist. Auch wenn die Forschung hier noch am Anfang steht: Im Weinbau würde das etwa erklären, warum vielfach bei Neuanpflanzungen die Verwendung von Massenselektionen alter, an Kleinklimata und Miroterroirs angepasste Reben bessere Ergebnisse erzielt als der Einsatz von züchterisch optimiertem Klonmaterial.

Der duale Weg der Landwirtschaft

Frankreich näherte sich durch die nachholende Modernisierung der Landwirtschaft zunächst im Vichy-Regime, danach in den „Trente Glorieuses“ von 1945 bis 1975 dem deutschen Mindset an. Auch unser Nachbarland ist heute in weiten Teilen agrarindustriell geprägt. Aber, und das ist, bei aller kulturellen Verschiedenheit, die entscheidende strukturelle Differenz: Das Land praktiziert heute eine „bipolare“ Strategie und unterscheidet im „dualen Weg“ der Landwirtschaft ausdrücklich zwischen industrialisiertem Standard und einer regional-traditionellen „Haute Couture“-Landwirtschaft.

Ein deutsches GG oder „Großes Gewächs“, die deutsche Version eines Grand Cru.

In der deutschen agrarpolitischen Diskussion wird das Landwirtschafts- und Ernährungssystem mit so ziemlich allen gesellschaftlich relevanten Querschnittsthemen konfrontiert. Die Politik fordert eine Transformation insbesondere unter den Prämissen Gesundheit, Umwelt, Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Tierethik, ländliche Entwicklung und Wirtschaftlichkeit – nicht immer zur Begeisterung der Bauern selbst. Ein erster Schritt der Veränderung wäre sicher, sich der eigenen Voraussetzungen wieder bewusst zu werden und Alternativen zu einem Entwicklungspfad zu erkennen, der in eine Sackgasse geführt hat. Ein Hochlohnland, zumal mit der Bevölkerungsdichte wie der Bundesrepublik, kann in keinem Sektor in erster Linie Billigprodukte herstellen, auch nicht in der Landwirtschaft. Stattdessen muss sich die Agrarwirtschaft stärker auf die Qualität der Produkte besinnen – und zwar nicht in prozesstechnischer, sondern degustatorischer Hinsicht. Wie eine solche Pfadumkehr funktioniert, hat der deutsche Weinbau gezeigt, der im Weingesetz von 2021 die weitgehende Angleichung an das französische Weinrecht vollzogen hat. Dies ist nicht zuletzt auch eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte.

Dr. Stefan Pegatzky

Der Autor hat zahlreiche Artikel und Bücher zu den Themen Wein, Essen und Landwirtschaft verfasst. Für das Weinwirtschaftsmagazin WEIN+MARKT berichtet er über den französischen Weinbau. Eine vergleichende Studie zur deutsch-französischen Agrargeschichte unter dem Titel „Agrikultur. Über Landwirtschaft, Herkunft und Geschmack“ ist in Vorbereitung.

Bildrechte

Beitragsbild und Weinflasche GG: Stefan Pegatzky / Time Tunnel Images
Alle übrigen: Public domain

Literatur

Kießling, Friedrich: Landwirtschaftsministerium und Agrarpolitik in der alten Bundesrepublik. In: Möller, Horst u. a. (Hrsg.): Agrarpolitik im 20. Jahrhundert. Berlin und Boston 2020, S. 367−512.
Marcilhac, Vincent: Le luxe alimentaire. Une singularité française. Rennes und Tours 2012.
Pitte, Jean-Robert: Gastronomie française. Histoire et géographie d’une passion. Paris 1991.
Spiekermann, Uwe: Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute. Göttingen 2018.
Thaer, Albrecht Daniel: Grundsätze der rationellen Landwirthschaft. 4 Bde. Berlin 1809–1812.

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